Das Foto in der Salzach

 

ACHTUNG TASCHENTÜCHER BEREIT HALTEN !!!

 

Das Foto in der Salzach  (Autor Susi)

Es war ein kalter Dezembermorgen und es hatte geschneit. Das B Team saß im Aufenthaltsraum. Gonzo war bei Max im Hangar, doch ihm wurde es dort zu kalt und so lief er in den Aufenthaltsraum. "Na mein Dicker.", rief Ralf, der zusammen mit Gabi auf dem Sofa saß. Gonzo sprang an Ralf hoch und wedelte mit dem Schwanz. "Was machen wir eigentlich heute?", fragte Gabi Ralf, denn das B Team hatte den ganzen Nachmittag frei. "Ich weiß nicht, was hältst du von Schlitten fahren?" Gabi musste lachen. Biggi saß etwas abseits von den anderen am runden Tisch und spielte verträumt mit einem Kugelschreiber. "Wie schön, wenn Thomas jetzt schon hier wäre.", dachte sie sich. Gabi sah auf die Uhr. Viertel vor Acht. "Wo bleiben die Jungs nur wieder", dachte sie laut und riss Biggi damit aus den Gedanken. "Stimmt, eigentlich müssten sie schon hier sein.", meinte Biggi. "Bei dem Wetter und den glatten Straßen.", zweifelte Ralf. Biggi ging zum Fenster und sah raus. Es herrschte das reinste Schneechaos. "Hoffentlich ist nichts passiert.", dachte sie. In dem Moment meldete sich die Rettungsleitstelle: "Rettungsleitstelle an Medicopter 117, schwerer Verkehrsunfall auf einer Landstraße bei Traunstein. GPS Koordinaten 47,86 Nord zu 12,69 East." Ralf, Biggi und Gabi liefen zum Heli. Sie mussten aufpassen, dass sie nicht ausrutschten, denn es war ziemlich glatt. Den Flug zum Einsatzort legten sie in weniger als 10 Minuten zurück. Biggi wollte gerade zur Landung ansetzen, als ihr Blick auf eines der Unfallautos fiel, sie erschrak. Entsetzt starrte sie nach unten auf das Autowrack, das sie sehr, sehr gut kannte. Allerdings als heiles Auto, und nicht so... Geistesabwesend vergaß Biggi für einige Augenblicke die Steuerung des Helis, und es gab einen gewaltigen Ruck, der Gabi und Ralf, die beide hinten saßen, kräftig durchschüttelte - worauf sie panisch nach Biggi riefen: "Biggi, was machst du??? Halt die Mühle gerade!!!!"  Durch die Schreie kam Biggi wieder zu sich und schaffte es gerade noch, den Heli unter Kontrolle zu bringen, bevor er beinahe auf ein Polizeiauto auf der Straße gekracht wäre.  Stockend machte sie Gabi und Ralf aufmerksam: "Sch...Schaut mal da unten - d... das ist Mi...Michaels und ... Thomas' Auto..." Jetzt sahen es auch Gabi und Ralf. Entsetzt starrten sie aus dem Fenster, und ergriffen die Hand des anderen. Das Autowrack sah wirklich katastrophal aus. Einige Augenblicke später hatte Biggi bereits unsanft den Heli auf der glatten Straße aufgesetzt. Das Schneechaos wurde inzwischen immer stärker - als Gabi und Ralf eilig wie noch nie aus dem Heli stürzten, wehte ihnen ein eiskalter Schneewirbel ins Gesicht. Sie hielten sich die Hand vor das Gesicht und rannten so schnell wie sie konnten auf das vollkommen zerstörte Auto zu. Die Unfallstelle war inzwischen gesäumt von Polizisten, die sich bemühten, so gut wie möglich die Straße abzusperren. Offensichtlich war Michael's Jeep mit einem schweren Kleinlieferwagen zusammengestoßen. Zwei Polizisten kümmerten sich um den anscheinend leicht verletzten Lenker dieses Wagens, der sich in Decken gehüllt an den Straßenrand gesetzt hatte.

Panisch stürzte auch Biggi aus dem Cockpit, und vergaß dabei sogar, die Turbinen abzulassen. Sie hatte nur eines im Kopf: Dass doch nur Thomas noch am Leben sei. Und natürlich auch Michael. Inzwischen waren Ralf und Gabi am Autowrack angelangt, wo sie zwei Polizisten empfingen. Sie konnten kaum was erkennen, bei diesem Schneesturm sah man beinah die Hand vor Augen nicht.  "Sie sind das Medicopter-Team? Wir haben es geschafft, ein Unfallopfer aus dem Wagen zu ziehen, aber der andere Mann ist noch eingeklemmt. Wir müssen auf die Feuerwehr warten, sie kommt mit den nötigen Geräten.", rief der Polizist lautstark durch den Sturm, und führte sie dann hinter das Auto. Da erblickten die beiden plötzlich Michael. Er lag in eine Decke gehüllt regungslos am Straßenrand und ein junger Polizist versuchte gerade vergeblich, ihn aufzuwecken.  Gerade hin- und hergerungen, ob sie nun zuerst nach Thomas oder ihm sehen sollten, stürzte plötzlich Biggi auf sie zu. "Was ist mit ihnen? Gabi, sag schon!!" Biggi hatte Gabi an der Jacke genommen und blickte ihr flehend in die Augen. Diese blickte um sich und  entschloss dann eilig: "Ralf, du siehst nach Thomas. Biggi, bitte bleib du bei mir, wir kümmern uns erst mal um Michael, okay? Thomas ist im Auto eingeklemmt, wir müssen auf die Feuerwehr warten.  Zurecht wollte Gabi ihrer Freundin den möglichen Anblick Thomas' ersparen. Verzweifelt versuchte sie, möglichst klare Gedanken zu fassen und beugte sich dann über Michael, während Ralf um das Auto herum rannte, um nach Thomas zu sehen. Er betete darum, dass Thomas noch lebte. Auf der Beifahrerseite standen zwei Polizisten und versuchten offensichtlich gerade, mit allen Kräften die zerquetschte Seitentür herauszureißen, hinter der Thomas lag. Ralf unterstützte sie und gemeinsam schafften sie es schließlich. Dann neigte sich Ralf in das Autowrack und beugte sich über Thomas. An seiner Stirn klaffte eine große Wunde, und sein Gesicht war blutüberströmt. Sein Kopf hatte sich zur Seite geneigt, und Ralf erkannte jetzt schon, dass es sehr schwer sein würde, ihn aus dem Wrack zu befreien. Da die beiden Autos frontal aneinandergestoßen waren, waren nun Thomas' Beine vollkommen eingeklemmt.

Er kontrollierte seinen Puls an der Halsschlagader und beantwortete die Nachfrage der Polizisten mit einem panischen "Scheiße!". Thomas' Puls war kaum noch tastbar. Auch seine Atmung war extrem schwach. Womöglich hatte er schwere innere Verletzungen. Aber wenigstens lebte er. Doch wie lange wohl noch? Ralf nahm sein Funkgerät aus der Tasche und forderte Gabi auf, so schnell wie möglich zu kommen. Diese war inzwischen mit Michael beschäftigt gewesen. Zu ihrer und Biggi's großer Erleichterung war er nicht schwer verletzt. Gabi hatte ihm eine Infusion angehängt und sich von seinem zum Glück stabilen Kreislauf überzeugt. Gerade war er aufgewacht, als sie Ralf's panischer Funkspruch erreichte. Nun hielt Biggi gar nichts mehr. Sie stürmte los, rannte um das Auto herum, drängte sich zwischen den Polizisten durch und kämpfte sich schließlich zu Ralf ins Auto. Entsetzt erblickte sie dann Thomas. Zitternd berührte sie mit ihrer Hand sein Gesicht. Ihren Blick nicht von ihm lassend, fragte sie flüsternd: "Ralf... W...Was ist mit ihm? Ist er ...?" Sie wagte es nicht auszusprechen. "Biggi - ... nein, er lebt." Noch. Er rief nochmals nach Gabi, die bereits auf dem Wege war. Ihr hinterdrein stolperte auch schon Michael.  Gabi schob die Polizisten beiseite und beugte sich neben Ralf und Biggi über Thomas. Sie erschrak bei seinem Anblick, fasste sich aber schnell und begann, ihn eilig zu untersuchen. Mit bangem und flehenden Blick sah Biggi sie dabei an. "Ralf, schnell, bereite mir 2,5mg Athropin und 1mg Ringalactat. Und leg einen Zugang. Wir intubieren. Wann kommt denn endlich die Feuerwehr?!"   Biggi fasste nach Thomas' lebloser Hand und streichelte sie zitternd. "Bitte, du musst es schaffen. Du darfst mich nicht allein lassen. Bitte, Thomas!!!", flehte sie ihn leise an. Während Gabi und Ralf Thomas notdürftig versorgten und Michael in großer Sorge dabei zusah, da er noch etwas  wackelig auf den Beinen war, kam endlich die Feuerwehr an. Feuerwehrmänner stürzten aus den Einsatzwägen und eilten zum Autowrack, in dem immer noch Thomas eingeklemmt war. Verzweifelt versuchten Gabi und Ralf, ihn am Leben zu halten. Gabi vermutete schwere innere Verletzungen, möglicherweise hatte er auch bereits Blutungen. Sie wussten genau - wenn sie es nicht bald schafften, Thomas auf dem schnellsten Wege zur Klinik zu bringen, hatte er keine Chance. Die Feuerwehr arbeitete professionell und so schafften sie es nach einigen Minuten endlich, Thomas zu befreien. Gabi und Ralf legten ihn, nun auch mit Michael's Hilfe, auf die Trage und versuchten, ihn bestmöglichst für den Flug zu stabilisieren. Immer wieder strich Biggi ihm über die Haare. Sie war am Boden zerstört vor Sorge. Als es ihnen endlich gelungen war, Thomas' Werte zumindest ein wenig in die Höhe zu treiben, rannte Biggi zum Heli, um ihn startklar zu machen, während die anderen drei Thomas in den Heckraum brachten. Sie konnten gerade noch einsteigen, da war Biggi schon gestartet und mit einem gewaltigen Karacho abgehoben. Sie konnte sich kaum auf den Flug konzentrieren, immer wieder blickte sie nach hinten zu ihrem Thomas... Gabi, Michael und Ralf waren mit allen Kräften bemüht, ihn am Leben zu halten. "Wie lange dauert es denn noch, Biggi?", drängte Gabi. "Ich mach so schnell ich kann! Drei Minuten, wenn's gut geht..."  Nach knappen drei Minuten, die allen endlos erschienen, waren sie endlich am Dachlandeplatz der Marienklinik angelangt. Das bereits wartende Ärzteteam kam auf sie zu und übernahm Thomas. Erschöpft folgten die anderen in die Klinik - sie wussten, jetzt hieße es warten, warten, warten...

Zwei Stunden vergingen. Das Team hatte sein "Lager" direkt vor der Tür zum OP-Bereich errichtet. Gott sei Dank war zumindest Michael inzwischen wieder fit. Peter war ebenfalls verständigt worden. Gabi, Ralf und er saßen auf einem harten Kliniksofa, während Biggi und Michael nervös den Gang auf- und abschritten. Zwischendurch kam immer wieder ein Arzt aus dem OP-Bereich, doch niemand konnte ihnen Nachricht geben. Michael beobachtete, wie Biggi, die sich inzwischen etwas entfernt mit der Stirn an die Wand gelehnt hatte, leise schluchzte. Langsam ging er auf sie zu, fasste ihr dann mit der Hand auf die Schulter und sagte: "Hey ... komm her." Er nahm sie in die Arme und daraufhin begann Biggi, an seiner Schulter hemmungslos zu weinen. "Alles wird gut. Er schafft es, glaub mir.", beruhigte er sie leise. Michael spürte, wie Biggi am ganzen Körper zitterte und nahm sie noch fester in den Arm. Auch ihm kamen langsam die Tränen. Er brauchte sich nichts vorzumachen - als Arzt wusste er genau, wie gering die Chancen seines Freundes standen.

Plötzlich öffnete sich wieder die Tür zum OP-Bereich, und ein mit grünen OP-Kitteln bekleideter Arzt kam heraus. Sofort eilten alle zu ihm hin, um ihn nach Neuigkeiten über Thomas zu fragen. Ängstlich warteten sie auf seine Antwort. "Ihr Kollege wird immer noch operiert. Bitte haben Sie Geduld. Aber ... ich muss Ihnen wohl trotzdem sagen - bitte bereiten Sie sich auf ein negatives Ergebnis vor. Er hat derart gravierende Verletzungen – eine Rettung ist unwahrscheinlich. Es tut mir leid." Verstört starrten sie in sein Gesicht. Sie konnten das einfach nicht glauben. Als der Arzt bereits gegangen war, standen sie immer noch auf der

selben Stelle. Nun hielt auch bei Gabi nichts mehr die Tränen zurück. Michael faltete die Hände vor seinem Gesicht und sprach zu sich selbst: "Nein, nein ... das darf einfach nicht wahr sein!!!"

Auch Peter und Ralf waren geschockt. Ralf nahm Gabi fest in den Arm und gemeinsam setzten sie sich schließlich aufs Sofa zurück. Peter hatte sich zur Wand gedreht, um seine Tränen zu verbergen. Nun aber drehte er sich langsam um, und sah, wie Biggi immer noch bewegungslos auf der Stelle stand und die Tür anstarrte.  Doch plötzlich schien sie Halt unter den Beinen zu verlieren und Peter beobachtete entsetzt, wie sie auf einmal zusammenbrach. "Um Gottes Willen!!!" - in einem enorm schnellen Reflex war er zu ihr gestürmt und schaffte es gerade noch, sie aufzufangen, bevor sie auf dem harten Klinikboden landete. Nun reagierte auch das Team. Schnell waren Michael und Ralf zu Hilfe geeilt und gemeinsam legten sie die Pilotin vorsichtig auf den Boden. Schnell überprüfte Michael mit Gabi die Vitalfunktionen und forderte Ralf auf, einen Klinikarzt zu benachrichtigen. "Ihr Puls ist sehr schwach. Wir brauchen unbedingt ein Blutdruckmessgerät. Vermutlich ein schwerer Kreislaufkollaps, wenn kein Nervenzusammenbruch. Was meinst du dazu?", wandte sich Michael an Gabi. Diese konnte nur bejahen - "Verdammte Scheiße!" sagten sie beide fast zur selben Zeit. Ralf kam mit einem Klinikarzt zurück. Sogleich übernahm Michael von ihm das Blutdruckmessgerät und stellte entsetzt fest, dass sich Biggi's Blutdruck vollkommen im Keller befand. "Oh nein..." Nach einer kurzen Absprache mit dem Arzt beschlossen sie, sie an ein EKG anzuschließen und ihr so schnell wie möglich eine Infusion anzuhängen. Gemeinsam hoben Michael, der Arzt und Ralf Biggi auf eine Liege und sie wurde in ein nahes Nebenzimmer gebracht, wo man sie mit dem Nötigsten versorgte. Michael und Gabi blieben bei ihr, während Ralf und Peter wieder auf den Flur gingen, um auf Neuigkeiten von der Operation zu  warten. Gabi hatte Biggi's Hand genommen und sich neben Michael an die Liege gesetzt, auf der Biggi, mit einer Decke zugedeckt, lag. Sie sah schrecklich blass und mitgenommen aus. Die Stunden vergingen. Peter und Ralf saßen schweigend vor der Tür zum OP-Bereich und warteten. Die Angst, jeden Moment könnte jemand vor sie treten und ihnen mitteilen, Thomas wäre tot, war erdrückend. Zur etwas paradoxen Ablenkung fragte Peter Ralf nach einiger Zeit, wie denn seine Beziehung mit Gabi liefe. "Toll", antwortete dieser. "Wir sind wahnsinnig glücklich zusammen. Aber ihre Mutter scheint mich immer noch nicht akzeptieren zu wollen. Sie kommt wohl nicht damit zurecht, dass ich kein reicher Grafensohn bin..." , ging er auf die Ablenkung ein. "Vielleicht solltest du mal mit ihr reden?" "Das will Gabi nicht. Sie weiß wohl, wie sowas enden würde - ihre Mutter hat wahrscheinlich denselben Dickkopf wie sie..." "Ach du meine Güte", antwortete Peter sarkastisch. Währenddessen saßen Gabi und Michael immer noch schweigend bei Biggi in dem kleinen Nebenzimmer. Gabriele hatte Kopfschmerzen - immer wieder fasste sie sich mit der Hand an die Stirn. Sie war erschöpft - die nervliche Belastung hielt bereits seit Stunden an und wirkte sich allmählich auf ihren Körper aus. Michael strich ihr über den Rücken und bot an, ihr eine Aspirin zu holen. Doch Gabi lehnte dankend ab. Nach einiger Zeit meinte Michael: "Der Beutel ist jetzt durch. Hoffentlich wacht sie bald auf", und blickte Biggi, die immer noch regungslos auf der Liege lag, besorgt an. Dann tätschelte er ihr sanft ein wenig die Wangen und versuchte, sie zu wecken. Einen Augenblick später öffnete Biggi tatsächlich die Augen. Verwirrt blickte sie zuerst um sich, dann fragte sie: "Was ist denn los?" - überlegte kurz, bis ihr der schreckliche Unfall wieder einfiel, und fragte mit bebender Stimme: "Was...ist mit...Thomas?" Nachdem sie Biggi darüber aufgeklärt hatten, dass es immer noch nichts Neues gab, beschlossen sie auf Biggi's Drängen hin, zusammen wieder zurück auf den Flur zu gehen. Biggi's Blutdruck war zwar immer noch sehr niedrig, doch mit Gabi's und Michael's Hilfe schaffte sie es, aufzustehen, worauf sie dann gemeinsam zurück zu Peter und Ralf gingen. Diese waren inzwischen schon voll ins Gespräch vertieft gewesen und freuten sich, Biggi zu sehen. Michael setzte sie auf das Kliniksofa und beschloss dann, einfach in den OP-Bereich zu gehen und nach Thomas zu fragen. Es kam ihm unheimlich vor, wie lange die Operation schon andauerte. Im selben Augenblick, als er den Türgriff in die Hand nehmen wollte, wurde die Tür plötzlich von der anderen Seite geöffnet. Ein schweißgebadeter, offensichtlich von einer OP erschöpfter Arzt trat an das Team heran. Sein ernster Blick ließ dessen Puls rapide in die Höhe schnellen.

Peter fasste als erster Mut, räusperte sich und fragte mit dennoch zittriger Stimme: "Wie... wie geht es unserem Kollegen? Hat er es ... geschafft?" Der Arzt atmete durch und setzte sich auf einen freien Sessel. Er schien zu überlegen. Das Team befürchtete das Schlimmste. "Nun sagen Sie schon!! Lebt er?" Angespannt wie nie wartete das Team auf seine Antwort. "Ja, aber...", antwortete er, wollte noch weiterreden, kam allerdings nicht dazu. Das Team war sich bereits freudig jubelnd in die Arme gesprungen, endlos erleichtert, dass Thomas die OP überlebt hatte. "Nun hören Sie mir doch bitte zu!", mischte sich nach einigen Augenblicken der Arzt mit kräftiger Stimme ein. Alle wandten ihre Blicke ihm zu, und dann sprach er den Satz aus, den sie in ihrem Leben wohl nicht vergessen werden würden. "Ich gebe Ihrem Kollegen noch ein paar Minuten. Folgen Sie mir, Sie ... Sie können sich jetzt noch von ihm verabschieden." Das hat gesessen. Auf die weiteren Erklärungen des Arztes über die Verletzungen, die Komplikationen und all die Begründungen für die Unmöglichkeit einer Rettung hörten sie gar nicht mehr. Wozu auch? Es änderte nichts daran. Thomas würde sterben. Nicht irgendwann - nein, in den nächsten Minuten. In den NÄCHSTEN MINUTEN. Sehr bald würde es Thomas Wächter nicht mehr geben. Sie konnten es einfach nicht fassen. Sie wollten es nicht fassen. So oft hatten sie um ein Leben gekämpft. Sie hatten gekämpft, gehofft und schließlich gewonnen. Jeder von ihnen. Es hatte kaum einen Tag gegeben, an dem sie nicht ihr Leben für jemand anderen riskiert hatten. Und was sollte das jetzt sein? Der Preis dafür? Der Dank?? Das hatte alles doch einfach keinen Sinn. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Sie würden wohl nie auf eine Antwort kommen. Eine Antwort auf die Frage, wieso ausgerechnet Thomas jetzt im Sterben lag. Warum sie ausgerechnet IHM NICHT helfen konnten. Nein, nie würde es eine geben. Fast wie in Trance folgten sie dem Arzt. Keiner sagte etwas. Auch nicht die Schwester, die ihnen vor der Intensivstation die bekannten grünen Kittel anbieten wollte, vom Arzt aber zurückgewiesen wurde. Sie bräuchten jetzt keine Kittel mehr. Es würde nichts an den Tatsachen ändern, ob nun ein paar Bakterien mehr oder weniger ans Sterbebett gelangen würden. An das STERBEBETT von Thomas Wächter. Dann betraten sie wie ferngesteuert die Intensivstation. Die Station, auf der schon in den nächsten Minuten wieder ein Bett frei werden würde. Thomas lag friedlich in einem Bett, die Augen geschlossen. Das EKG war noch angeschlossen, die künstliche Beatmung ebenfalls noch tätig. Doch die üblichen zahlreichen Schläuche und Kanülen waren bereits von den Ärzten entfernt worden. Hatten sie doch keinen Sinn mehr gehabt. Biggi, die als erste den Raum betreten hatte, sah ihren Thomas einige Augenblicke lang an, stürzte dann plötzlich auf das Bett zu und ließ sich schluchzend über Thomas fallen. Sie vergrub ihr Gesicht in der Bettdecke, fasste ihn dann an den leblosen Schultern und flehte unter Tränen: "Das kannst du doch nicht tun, Thomas! Du darfst mich nicht verlassen...!!! Ich liebe dich doch ... so sehr...", sagte sie dann ganz leise hinzu. Unentwegt hörte man das laute Piepsen des EKG's – mal schneller, mal langsamer. Gabi ging auf Biggi zu und umarmte sie - ebenfalls weinend. Sekundenlang standen sie da, und Gabi spürte, wie Biggi's Körper richtiggehend durchgeschüttelt wurde. Doch dann plötzlich löste sie sich langsam aus der Umarmung, fasste sich und meinte: "Es wird Zeit... Lasst uns... von ihm verabschieden...", wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte sich wieder an Thomas' Bett. Nun kamen auch die anderen näher. Michael nahm sich einen zweiten Sessel und schob ihn an die andere Seite des Bettes, Ralf nahm Gabi's Hand und streichelte sie und Peter stellte sich neben Michael und fasste ihn an der Schulter. Leise schlossen der Arzt und die Schwester die Tür. Es herrschte nun eine fast unheimliche Stille. Es gab nichts mehr zu sagen. Jeder verabschiedete sich in Gedanken mit eigenen Worten von Thomas. Biggi hatte seine Hand genommen und hielt sie fest wie nie. Sie wollte ihn festhalten, doch sie konnte es nicht. Er würde sie verlassen, ohne dass sie es auch nur irgendwie verhindern konnte.  Ihren Blick nicht von ihm lassend, kamen ihr innerlich all die Erinnerungen wieder vor Augen - all die schönen Dinge, die sie mit Thomas erlebt hatte. Die zärtlichen, wunderschönen Küsse von ihm, in der Zeit, seitdem sie ein Paar waren. Wieder wurde Biggi bewusst, dass das jetzt alles vorbei war. Nie wieder würde er sie küssen, nie wieder. Alles würde sie dafür geben, wenn er noch einmal aufwachen würde und sie ihm ein letztes Mal sagen könnte, wie sehr sie ihn liebte. Unentwegt wischte sie sich weitere Tränen vom Gesicht. Dennoch war die Bettdecke inzwischen vollkommen nass. Michael ging es nicht besser. Nie wieder würde er einen Freund wie Thomas haben. Was hatte er mit ihm alles erlebt und durchgemacht. Nun lag er da, hilflos, ausgeliefert - er, der doch immer so mutig und von allen der nervenstärkste gewesen war. Er, der doch schon so viel mitgemacht hatte und jetzt vor kurzer Zeit endlich wieder sein Glück in der Liebe gefunden hatte. Das war doch alles einfach nicht fair. Michael sah hinüber zu Biggi. Sie war vollkommen ruhig geworden. Immer noch starrte sie auf Thomas, als wollte sie ihn hypnotisieren, doch noch einmal aufzuwachen. Dann beugte sie sich zu seinem Gesicht, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein letztes Abschiedswort? Das dachte sich Michael zumindest. Doch es war ein Versprechen – ein Versprechen, das erst einige Stunden später seine Wirkung zeigen würde. Ein paar Sekunden später passierte das Unglaubliche. Thomas schlug die Augen auf. Das Piepsen des EKG's beschleunigte sich gut um das Dreifache. Thomas blickte Michael an. Dieser drückte nochmals ganz fest seine Hand und sagte leise: "Ich danke dir für alles, Thomas." Die Tränen drückten seine Stimme und er brachte noch hervor: "Das Haus wird sehr einsam sein...ohne dich. Ich werd dich nie vergessen, hörst du?" Thomas nickte schwach und flüsterte: "Ich dich auch nicht... Kumpel..." Dann drehte er sich langsam und zaghaft zu Biggi hin. Als er ihr Gesicht sah - ihre wunderschönen, glänzenden Augen, die nun tränengefüllt und rot waren, sammelte er mit aller Mühe seine letzten Kräfte und zog sie mit der Hand zu sich hinunter. Dann küssten sich die beiden, wie sie sich noch nie geküsst hatten. Als sie sich sehr, sehr langsam wieder voneinander lösten, sah Thomas sie an und formte mit seinen Lippen ein letztes "Ich liebe dich", worauf sie ihn innigst und unendlich zärtlich umarmte und dabei sagte: "Ich dich auch - und ich werde nie ... nie damit aufhören". Sie blickte ihn an, und Thomas öffnete noch mal den Mund, um etwas zu sagen - doch er schaffte es nicht mehr. Er musste es hinnehmen - sah seine Freunde noch mal mit einem letzten Blick an, der mehr als tausend Worte sagte, und schloss die Augen - worauf das Piepsen des EKG's in einen einzigen, lang gezogenen Ton überging. Es war passiert. Thomas war TOT. Gestern war er noch stolz in seiner schwarzen MC-Jacke im Cockpit gesessen, hatte mit Michael Karten gespielt, hatte Peter wegen Barbara beratschlagt, hatte Biggi geküsst - jetzt war er TOT. Gabi ließ sich in Ralf's Arme fallen und beide weinten herzzerreißend. Peter drehte sich um und vergrub sein Gesicht in den Händen. Michael hatte seinen Kopf auf Thomas' Bett geworfen und schluchzte leise. Daraufhin fasste Peter ihn an der Schulter, zog ihn hoch und umarmte ihn. Keiner sagte ein Wort. Biggi saß immer noch an Thomas' Bett und streichelte unaufhörlich seine Hand. Nichts und niemand würde sie von seinem Bett wegkriegen. So verblieben sie über eine lange Zeit. Bis schließlich der Arzt den Raum betrat - durch das Geräusch schreckten alle auf. Mit einem letzten Blick auf Thomas - nein, auf Thomas' Leiche - verließen sie alle das Zimmer bzw. die Klinik. Seit einer guten Stunde nun hatte keiner mehr ein Wort gesprochen. Gabi blickte hinüber zu Biggi, die unerwartet gefasst aussah. Besorgt machte sie sich über ihren Kreislauf Gedanken, sprach ihre Freundin aber nicht darauf an. Jeder verblieb in seiner Trauer und in seinen Gedanken. Biggi hatte nur einen einzigen. Michael fuhr mit dem Taxi nachhause, unwissend, wie er Lisa und Laura am

nächsten Morgen die Nachricht nur überbringen konnte. Sie würden fragen, wo denn ihr Vater sei. Ob er bei Biggi übernachtet habe, würden sie fragen. Er würde es verneinen müssen. Er würde ihnen sagen müssen, dass er nie wieder irgendwo übernachten würde. Dass sie ihn nie wieder sehen würden. Es stand ihm eine schlaflose Nacht bevor. Ralf nahm Gabi mit zu sich nachhause, gemeinsam würden sie die Nacht besser überstehen. Auch Peter machte sich auf den Weg zu Barbara. Wenigstens war er nicht allein. Auch Biggi bestellte sich ein Taxi. Die Einladung, bei Gabi und Ralf zu übernachten, hatte sie abgelehnt. Als sie bereits auf dem Rücksitz saß, überlegte sie es sich anders. Sie bat den Fahrer, wieder anzuhalten und stieg aus.  Sie stürmte durch die Klinik, in den Lift, fuhr auf das oberste Stockwerk und gelangte schließlich auf den Dachlandeplatz. Dort stand sie, ihre BK. Sie ging an das Geländer und blickte hinunter. Es war tief, sehr tief . Wer dort hinunter fallen würde, würde sicher nicht überleben. Eine Weile blieb sie an der Stelle stehen. Gerade war sie dabei, ihren Fuß auf die unterste Stange des Geländers zu setzen, als sie zurückwich. Sie hatte heute ... noch was vor. Was anderes. Daraufhin begab sie sich zum Helikopter, schloss die Heckklappe und setzte sich ins Cockpit. Sie ließ die Rotoren aufheulen - ein Geräusch, das sie unheimlich liebte - und hob wenige Momente später ab. Sie genoss den Flug wie noch nie. Verträumt blickte sie über die Lichter der tiefen Nacht – und wusste dabei genau, was sie heute noch vorhatte. Nach kurzer Zeit war sie an der Basis angelangt.  Sie streifte sich unheimlich langsam den Helm über den Kopf, stieg aus und begab sich in den hinteren Teil des Helis. Dort fand sie sehr bald, was sie suchte. Sie steckte es in die Tasche ihres Overalls, schloss die Helitüren und begab sich zu einer ganz bestimmten Stelle - am Fluss. Sie setzte sich an das leicht rauschende Wasser, hatte nichts vor Augen außer der Dunkelheit – und Thomas. Hier, genau hier hatten sie gesessen und sich zum ersten Mal geküsst. Genau hier hatte Thomas ihr zum ersten Mal gesagt, wie sehr er sie liebte. Genau hier waren sie in jeder freien Minute gesessen und hatten in das Wasser geblickt. Und genau hier würde Biggi nun auch ihr Versprechen einlösen, das sie dem unwissenden Thomas vor ca. zwei Stunden gegeben hatte. Sie griff in ihre Tasche und zog das kleine Päckchen hervor, das sie kurz zuvor aus der Arzneitasche im Heli genommen hatte. "Halcion, 500mg" stand darauf. "Schlaftabletten". "Achtung. Kann die Verkehrs- und Reaktionstüchtigkeit beeinträchtigen".  Das kümmerte Biggi nicht. Wieso auch, sie hatte nichts mehr vor heute, bis auf das eine. Es dauerte nicht lange, bis Biggi eine ganze Hand voll der "reaktionsbeeinträchtigenden" Tabletten zu sich genommen hatte. Das war ihre letzte Reaktion. Die Reaktion auf das schlimmste Ereignis ihres ganzen Lebens. Die Reaktion auf das Ereignis, das es ihr nicht ermöglichte, auch nur irgendwie weiterzuleben. Das Ereignis, das ihr jeglichen Lebenssinn herzlos genommen hatte. Ihren Lebenssinn. THOMAS. Es folgte ein letzter Blick nach hinten zu dem schuldlosen, rot-gelben Engel vor dem Hangar, ein Griff in ihre Tasche nach einem Foto von Thomas, welches sie mit allen Kräften an sich drückte - und ein Wasserplatschen. Hinein mitten in die Stille der Nacht. Nach einigen Minuten war alles vorbei. Niemand hatte es gemerkt, niemand hatte es mitgekriegt - niemand würde jemals wissen, warum. Einer vielleicht - Thomas, von irgendwo. Zurück blieben ein halbleeres Päckchen Schlaftabletten - Halcion, 500 mg, verkehrs- und reaktionsbeeinträchtigend - viele Vorwürfe, viele Tränen, rote Rosen an zwei Gräbern des Friedhofs und ein rot-gelber unschuldiger Engel, der innerhalb einer einzigen Nacht seine beiden Piloten verloren hatte. Und noch was - das eingeweichte Foto eines Piloten namens Thomas Wächter, an der Wasseroberfläche der Salzach, wo es wohl bis in die Unendlichkeit getrieben wurde...

Ende



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