Ich hätte ja gesagt (Autor: Susi und Verena)
Es war ein wunderschöner, warmer Frühlingsmorgen, als Biggi mit ihrem Motorrad auf den Parkplatz der Basis fuhr. Sie stieg ab, streifte sich langsam den Helm vom Kopf und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die ihr ins Gesicht schienen. ‚Was für ein herrlicher Morgen.’, dachte sie sich. Sie wollte sich gerade auf den Weg zum Basiseingang machen, als sie Gabis Auto auf den Parkplatz fahren sah. So entschloss sie sich noch, auf ihre Freundin und Kollegin zu warten. Gabi stieg wenige Augenblicke später aus und kam auf Biggi zu. Die Notärztin hatte eine dünne Sommerbluse an, genau wie ihre Kollegin, und genoss ebenso das herrliche Wetter. „Guten Morgen Gabi!“, begrüßte Biggi sie gut gelaunt. „Hallo Biggi.“, erwiderte Gabi ebenso fröhlich und die beiden gingen gemeinsam auf den Basiseingang zu. Das A Team hatte die Nachschicht gehabt und Peter, Thomas und Michael saßen noch im Aufenthaltsraum und schliefen. Die Schicht war anstrengend gewesen, da es zwei schwerer Autounfälle mit mehreren Schwerverletzten und sogar einem Toten gegeben hatte. So waren die drei erst in den frühen Morgenstunden dazugekommen, sich auszuruhen und noch ein wenig zu schlafen. Während Michael und Peter sich das Sofa teilten, hatte Thomas sich auf dem Sessel niedergelassen. Biggi und Gabi steckten leise ihre Köpfe in den Aufenthaltsraum und mussten bei dem Anblick der drei schmunzeln. „Männer….Sind sie nicht niedlich, wenn sie schlafen?“, fragte Gabi ihre Freundin lächelnd. Biggi musste grinsen, dann schlich sie langsam auf den Sessel zu, auf dem Thomas es sich gemütlich gemacht hatte. Vorsichtig beugte sie sich zu ihm herunter und küsste ihn dann zärtlich, um ihn zu wecken. Tatsächlich blinzelte er verschlafen und öffnete dann langsam die Augen. „Guten Morgen, mein Schatz.“, meinte Biggi dann sanft, während Thomas seine Arme um ihre Hüften legte und sie zu sich zog, sodass sie schließlich auf seinem Schoß saß. „Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe, aber draußen scheint die Sonne, es ist herrliches Wetter und außerdem ist deine Schicht gleich um.“, entschuldigte Biggi sich dann dafür, dass sie ihren Liebling nicht hatte schlafen lassen. Thomas lächelte. „Ach, so schön lasse ich mich doch gern wecken und von meinem Engel sowieso.“ Sie sahen sich in die Augen, lächelten sich verliebt an und küssten sich dann zärtlich. Sie wollten gar nicht damit aufhören, und in ihrer Leidenschaft beugte sich Biggi immer weiter über ihn, bis sie schließlich auf ihm lag. Als die beiden immer stürmischer wurden, fühlten sich die Kollegen gezwungen, das Liebespaar von ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen. „Ähm, also ich verstehe ja, dass ihr beide euch begrüßen wollt, aber ihr vergesst, dass ihr nicht alleine im Raum seid.“, meinte Michael schmunzelnd. Erschrocken fuhren Biggi und Thomas hoch. Sie hatten tatsächlich völlig darauf vergessen, ihre restlichen Gedanken waren wie üblich beim Austausch von Zärtlichkeiten völlig ausgeschalten worden. „Sorry … ich glaube, da ziehen wir uns besser in die Umkleide zurück.“, schlug Biggi vor. „Gute Idee…“, sagte Thomas darauf nur und schon waren die beiden wie der Blitz aufgestanden und aus dem Aufenthaltsraum verschwunden. Ihre Kollegen blickten ihnen lächelnd nach. „Echt schön, die beiden anzusehen. Sie sind so glücklich miteinander.“, seufzte Gabi fröhlich. Sie freute sich wie ihre Kollegen sehr für die beiden, die schon so lange ineinander verliebt gewesen waren, ohne den Mut zu haben, es einander einzugestehen. „Wie lange sind sie jetzt eigentlich schon zusammen?“, fragte Ralf nachdenklich. „Fast ein Jahr, oder?“ Michael nickte. „Und jeden Tag verliebter.“, fügte er hinzu.
Das war offensichtlich. Thomas und Biggi hatten sich so schnell es ging in die Umkleide zurückgezogen und diese natürlich abgesperrt. Aneinander gekuschelt lagen sie auf dem Sofa, das erst vor kurzem für den Umkleideraum angeschafft worden war. Der Vorschlag war natürlich von Thomas und Biggi gekommen, unter dem Vorwand, dass man hierher auch mal zur Not als Schlafstätte im Nachtdienst ausweichen konnte, was allerdings ohnehin keiner tat. Sie wurde vielmehr von den beiden als andere Stätte benutzt. Wie auch an diesem Tag. Sie tauschten wild Küsse aus, und wälzten sich dabei so übermütig auf dem Sofa herum, dass Thomas einmal schließlich fast runterknallte. „Autsch!“, jammerte er, als er mit dem Kopf an der Wand angestoßen war. „Oh nein, mein Schatz. Tut es sehr weh?“ „Jaaaa.“, jammerte Thomas wehleidig und hielt sich den Kopf, während er sich aufsetzte. „Das kommt davon, wenn man so aktiv ist wie du.“, grinste Biggi, während sie sich hinter ihm ihre Bluse aufknöpfte. Anschließend krabbelte sie ganz langsam von hinten an ihren Freund heran, umschlang schließlich seinen Hals und zog ihn nach hinten. Als er Biggi über sich liegen sah und sie ihn zärtlich am Hals küsste, flüsterte er nur noch: „Jetzt tut’s plötzlich gar nicht mehr weh.“ Also Antwort bekam er nur einen langen Kuss, was ihm wohl auch lieber war. Seine Hände glitten langsam unter Biggis Bluse, während sie nicht aufhörten, sich zu küssen. Nachdem sie den anderen die ganze Nacht über hatten entbehren müssen, hatten sie nun einen ziemlichen Nachholbedarf.
Peter hatte währenddessen in der kleinen Basisküche für sich und seine Kollegen Tee aufgesetzt. Das A Team wollte wie immer nach der Nachtschicht noch ein wenig auf der Basis bleiben, um mit Biggi, Gabi und Ralf zusammen zu frühstücken. Der Duft der frischen Brötchen, die Ralf mitgebracht hatte, zog bereits durch den Aufenthaltsraum, als Peter schließlich mit der Kaffeekanne in der Hand aus der Küche kam und seinen Kollegen, die bereits am Tisch saßen, einschenkte. Nur Thomas und Biggi fehlten noch. „Ich werde unseren beiden Turteltäubchen dann mal Bescheid sagen gehen.“, beschloss der Sanitäter grinsend und verschwand sogleich in Richtung Umkleide.
Thomas und Biggi lagen eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa und hatten es sich so richtig gemütlich gemacht. Sie waren fast wieder ein wenig eingeschlafen. Schließlich war die Nacht für Thomas nicht gerade lang gewesen und auch Biggi war noch ein wenig müde. Zudem fühlten sie sich so wohl in der Gegenwart des anderen, ihm so nahe zu sein, dass sie alles andere schon fast vergaßen. Plötzlich wurden sie jedoch durch ein lautes Klopfen an der Tür zurück in die Realität geholt. Wenige Augenblicke später vernahmen sie Peters Stimme: „Hey, ihr beiden! Das Frühstück ist fertig. Kommt ihr?“ „Ja, wir kommen gleich.“, gaben Biggi und Thomas gleichzeitig zurück. Dann blickten sie sich wieder verliebt in die Augen und küssten sich ein letztes Mal lange und innig, bis sie sich schließlich langsam erhoben und zu den anderen in den Aufenthaltsraum gingen.
Dort hatten sich bereits alle um den runden Tisch versammelt, nur die beiden fehlten noch. Es herrschte wie jeden Morgen eine gemütliche und fröhliche Stimmung, was durch den Duft der frischen Brötchen zusätzlich verfeinert wurde. „Da seid ihr ja, was habt ihr wohl wieder getrieben?“, fragte Max die zwei Piloten, die Arm in Arm den Raum betraten. „Das ist nichts für kleine Mechaniker, Max, sorry.“, sagte Thomas frech. Sie setzten sich natürlich nebeneinander an den Tisch und Biggi lehnte sich glücklich an Thomas’ Schulter. Währenddessen bestrich dieser ein Brötchen mit dicker Himbeermarmelade und ließ sie schließlich davon abbeißen. So ging das weiter, wie bei fast allen Frühstücken fütterten sich Biggi und Thomas gegenseitig und aßen kaum etwas selbst. Die anderen sahen ihnen kopfschüttelnd zu, ließen sich dabei aber selbst das Essen gut schmecken. Es war heute wirklich besonders gut, und nichts schien die gute morgendliche Stimmung trüben zu können. Bis auf einen Zeitpunkt fünf Minuten später. Das Telefon klingelte. Das Klingeln schrillte und schrillte, es tat nicht nur in Biggis Ohren weh, es würde auch einen schweren Einschnitt in ihr bisher unbeschwertes Leben bedeuten. Doch noch ahnte sie davon nichts. Michael hob ab. „Basis Medicopter, Dr. Lüdwitz.“ – „Aha, und was kann ich für Sie tun?“ – „Ja, Frau Schwerin ist hier.“ Der Notarzt gab Biggi ein Zeichen, herzukommen. „Hier, für dich, ein Herr Kommissar Brandtner.“ Biggi blickte ihren Kollegen verwirrt an, doch auch der konnte sich nicht erklären, was Biggi mit der Polizei zu tun haben sollte. „Ja, Schwerin am Apparat?“ Eine Weile lang sahen ihre Freunde nur zu, wie sie sich scheinbar irgendetwas von diesem Kommissar erzählen ließ. Schockiert bemerkten sie, wie Biggis Gesicht plötzlich kreidebleich wurde und ihre Hand am Hörer zu zittern begann. Es dauerte nicht lange, und sie ließ ihn fallen. Mit einem Krachen landete der Hörer auf dem Boden und schließlich musste Biggi sich am Tisch festhalten, um selbst nicht zusammenzubrechen. Als ihre Kollegen ihr erschrocken zur Hilfe kommen wollte, schüttelte sie sie nur ab, hielt sich den Arm vors Gesicht und stürmte nach draußen. Sie rannte und rannte, bis sie am Salzachufer ankam, wo sie sich tränenüberströmt zu Boden sinken ließ.
Ihre Kollegen standen im Aufenthaltsraum und sahen sich fragend an, sie wussten absolut nicht, was los war. Was hatte dieser Kommissar von Biggi gewollt. Thomas zögerte einen Moment, dann stürmte er Biggi nach, nach draußen zur Salzach. Die Kollegen sahen ihm nach, sie konnten sich absolut nicht vorstellen, welche Nachricht dieser Kommissar Biggi überbracht hatte. Was konnte nur passiert sein, dass es die Pilotin derartig aus der Bahn geworfen hatte?
Thomas sah schon aus einigen Metern Entfernung, dass Biggi an der Salzach saß, an ihrer Lieblingsstelle. Sie hatte den Kopf auf die Knie gelegt und unter ihren Armen begraben. Langsam näherte Thomas sich ihr und setzte sich schließlich neben sie. Er legte schweigend den Arm um sie und zog sie zu sich. Biggi hob ein wenig den Kopf und Thomas blickte in ihre tränengefüllten Augen, die ihn verzweifelt ansahen. Dann ließ die Pilotin sich schluchzend in seine Arme sinken. Thomas strich ihr beruhigend über den Rücken, doch Biggi konnte im Moment nichts und niemand beruhigen. „Was ist denn los?“, fragte Thomas schließlich leise, während er ihr behutsam übers Haar strich. Biggi schluchzte nur weiterhin und vergrub ihr Gesicht noch tiefer in seinem Overall. Thomas wusste nicht, was er tun sollte. Er machte sich schreckliche Sorgen. Warum war seine Biggi so fertig? Was hatte dieser Kommissar ihr für eine schreckliche Nachricht mitgeteilt? Er malte sich alles Mögliche aus, doch wirklich vorstellen konnte er sich all das nicht. „Es ist so schrecklich, ich kann das einfach nicht glauben.“, sagte Biggi dann schließlich leise und unter Tränen, nachdem sie langsam aufgehört hatte, zu weinen, und sich wieder ein wenig aufgerichtet hatte. „Biggi, was ist los? Was wollte der Kommissar von dir?“, Thomas hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus, er wollte endlich wissen, was los war, was seine Biggi so sehr bedrückte. Sie war der wichtigste Mensch in seinem Leben und wenn er eines nicht ertrug, dann war es, wenn es ihr schlecht ging. Immer wieder streichelte er sie beruhigend und hielt sie die ganze Zeit beschützend im Arm. Biggi blickte ihn an und Thomas bemerkte, dass sie noch immer mit den Tränen kämpfte. „Meine Eltern….“, brachte sie dann leise hervor, „Sie….sie sind tot.“ Wieder rannen ihr die Tränen über die Wangen. Thomas war zunächst geschockt von der schlechten Nachricht. „Oh Biggi, es tut mir so Leid.“, sagte er dann jedoch leise und schloss sie noch fester in die Arme. Er sagte nichts, er hielt sie einfach nur im Arm. Kein Wort der Welt hätte seine Biggi in dieser Situation trösten können, doch die Wärme, die er ihr spendete, sollte ihr Leid wenigstens etwas erträglicher machen. Sie sollte wissen, dass er für sie da war. Immer und jederzeit, egal, was passierte. Er konnte sich vorstellen, wie sie sich fühlte. Er hatte selbst einmal einen geliebten Menschen verloren, zwar nicht seine Eltern, aber seine Frau. Auch Biggi hatte ihre Eltern über alles geliebt, das wusste er. Sie war ihnen immer dankbar dafür gewesen, wie tatkräftig sie sie in ihrem Wunsch, Pilotin zu werden, unterstützt hatten. Nach Biggis Erzählungen wusste er, dass sie eine glückliche Kindheit und immer ein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt hatte. Und jetzt das. Biggi schluchzte immer noch, sie konnte sich nicht beruhigen. Alle Folgen des Schocks zeigten jetzt ihre Wirkung. Während Thomas sie immer noch streichelte und versuchte, beruhigend auf sie einzureden, stand der Rest des Teams immer noch wie angewurzelt im Aufenthaltsraum. Sie wussten nicht, was sie tun sollten, sie waren einfach nur geschockt und ratlos. Sie wussten, dass etwas Schreckliches passiert sein musste, aber was? Was konnte nur so schlimm sein, dass es die sonst so souveräne Biggi derart aus der Fassung brachte? Irgendetwas mussten sie tun. Schließlich beschlossen sie, gemeinsam nach Biggi und Thomas zu sehen. Diese saßen immer noch am Fluss, Biggi hatte sich in Thomas’ Armen vergraben und weinte ohne Ende. Sie war so froh, ihn an ihrer Seite zu haben, doch gleichzeitig konnte sie kaum einen normalen Gedanken fassen, sie spürte nur diese endlose Verzweiflung. Thomas drückte sie so fest an sich wie er nur konnte. Von hinten hörte er schließlich die leisen Schritte seiner Kollegen. Biggi bekam davon gar nichts mit. Der Pilot drehte sich um und warf seinen Freunden einen traurigen Blick zu. Gabi stieg vorsichtig den Uferhang hinab und setzte sich zu den beiden. Dann legte sie ihre Hand auf Biggis Schulter und streichelte sie. „Was ist passiert?“, fragte sie leise, man bemerkte die unüberhörbare Anspannung in ihrer Stimme. „Ihre Eltern. Sie sind gestorben.“, antwortete Thomas. „Was?“ Michael, Gabi, Ralf und Peter waren geschockt. Ebenso wie es auch Thomas schon gewesen war. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Lautlos stiegen auch Peter, Michael und Ralf den Hang hinab zu Biggi. Sie sollte wissen, dass sie alle für sie da waren, wozu waren sie denn ein Team. Bestimmt nicht, um nur anderen Menschen das Leben leichter zu machen. Biggi konnte sich nicht beruhigen. Die Tränen, die Verzweiflung, der Schock beherrschten ihre Seele und ihren Körper. Thomas spürte, wie sie zitterte, und was er am meisten hasste, war diese Hilflosigkeit. Er konnte nichts für Biggi tun. Nichts, was sie von ihrem Schmerz erlösen würde. Man sagte zwar immer, dass die Zeit alle Wunden heilte, doch wie lange würde es dauern, bis Biggi diesen Schicksalsschlag verkraften würde? Keiner konnte eine Antwort auf diese Frage finden. „Wenn….wenn wir irgendwas für dich tun können….“, meinte Gabi schließlich leise. Biggi blickte ein wenig auf. „Danke…“, brachte sie unter Tränen hervor, „Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne euch machen würde.“ „Hey, das ist doch selbstverständlich, wozu hat man schließlich Freunde.“, versicherte Gabi ihr und lächelte ein wenig. Biggi nickte dankbar, sie war so froh, dass die anderen sie unterstützten und sie sich auf ihre Freunde immer verlassen konnte. Besonders in so einer schrecklichen Situation zeigte sich, wie wichtig gute Freunde waren. „Ich werde gleich mal mit Ebelsieder reden, ich denke, es ist das Beste, wenn er einen Ersatzpiloten anfordert und du dir erst einmal ein paar Tage frei nimmst.“ Biggi nickte nur und vergrub ihr Gesicht dann wieder in Thomas’ Overall. Sie stand noch immer total unter Schock und konnte einen klaren Gedanken mehr fassen.
Gabi, Peter, Ralf und Michael hielten es dann für besser, Thomas mit Biggi allein zu lassen. Sie wussten, dass Thomas für Biggi der wichtigste Mensch war und sie ihn über alles liebte. Wenn jemand ihr dabei helfen konnte, den Tod ihrer Eltern zu verkraften, dann er.
Michael machte sich gleich darauf auf den Weg zu Ebelsieder Büro. Er klopfte an und trat dann ein. „Was gibt es denn, Herr Dr. Lüdwitz?“, fragte der Stützpunktleiter. Er ahnte nichts Gutes, denn Michaels besorgter Gesichtsausdruck war ihm nicht entgangen. Michael erzählte ihm daraufhin die ganze Geschichte und Ebelsieder reagierte sehr verständnisvoll. „Richten Sie Frau Schwerin bitte mein aufrichtiges Beileid aus und sagen Sie ihr, sie soll sich so lange Urlaub nehmen, wie sie braucht. Ich werde mich gleich um einen Ersatzpiloten kümmern.“ Michael nickte. „Danke, Herr Ebelsieder.“ „Schon ok.“ Ebelsieder sah Michael noch nach, wie dieser das Büro wieder verließ. Auch er war geschockt von der schrecklichen Nachricht. Er wollte, dass seine Pilotin sich erst einmal solange frei nahm, bis sie die Ereignisse halbwegs verarbeitet hatte. Bei einem Job wie ihrem war schließlich vollste Konzentration eine der Grundvorrausetzungen und diese konnte Biggi im Moment mit Sicherheit nicht aufbringen.
Biggi und Thomas saßen noch immer am Fluss. Sie lagen sich schweigend in den Armen und Biggi weinte ein bisschen. Sie war so froh, dass Thomas für sie da war. Sie brauchte ihn jetzt mehr als je zuvor und er wusste das. Er würde immer für sie da sein, egal was auch passierte.
Das Rauschen des Wassers beruhigte sie, und mit der Zeit wurden die Tränen weniger. An Thomas hielt sie sich jedoch noch genauso fest wie zuvor. Irgendwann begann sie schließlich, leise zu sprechen. „Ich kann es nicht glauben, dass ….“ Sie hielt inne. Thomas wartete, bis sie weitersprach, und strich ihr liebevoll um den Nacken. „ …. dass sie auf einmal nicht mehr da sind. Es gibt sie nicht mehr, verstehst du? Sie sind tot. Einfach so.“ Auf diese Ehrlichkeit zu sich selbst folgte ein weiterer Anfall von Tränen. „Ich weiß, Biggi, ich weiß.“, meinte Thomas nur leise, während er sie fest an seine Brust drückte. „Aber du bist nicht allein. Du hast mich, du hast alle deine Freunde, verstehst du? Wir werden immer für dich da sein.“ Biggi nickte. „Ich weiß. Ohne euch, das wäre unvorstellbar. Aber da ist noch jemand.“ Thomas blickte sie fragend an. „Meine Schwester, Barbara.“ Erschrocken blickte Thomas auf. Natürlich, Barbara. Sie war eine ungeplante Nachzüglerin von Biggis Eltern gewesen und erst 16 Jahre alt. Ein erschüttertes „Oh nein.“ konnte Thomas nicht verbergen. „Sie ist noch nicht mal 17, verstehst du? Sie wird alleine niemals damit klar kommen. Ich muss unbedingt zu ihr. Ich bin die Erwachsene, ich darf mich nicht der Verzweiflung hingeben. Sie ist das eigentliche Opfer.“ Mit diesen Worten setzte sie sich langsam aufrecht hin. Es fiel ihr unheimlich schwer, jetzt klare Gedanken zu fassen, doch sie musste es tun. Um ihrer Schwester Willen. Sie war jetzt allein und brauchte bestimmt dringend Biggis Gegenwart. Auf schwachen Beinen kämpfte sie sich nach oben, worauf Thomas ebenso aufstand und schützend seinen Arm um ihre Hüfte legte. „Was willst du jetzt tun?“, fragte er sie schließlich zögerlich, obgleich er sich denken konnte, dass Biggi wahrscheinlich so schnell wie möglich nach Wien fahren wollen würde. „Ich muss sofort zu meiner Schwester. Sie hat doch in Wien sonst niemanden, jemand muss sich um sie kümmern.“ „Natürlich.“, meinte Thomas, verständnisvoll. „Soll ich… soll ich mitkommen?“, fragte er sie dann besorgt. Biggi blieb stehen und sah ihm in die Augen. Dann sah sie auf den Boden. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich erstmal allein fahre.“, antwortete sie zögerlich. „Bitte versteh mich, Thomas. Es gibt dort so viel zu regeln in Wien, ich muss mich um meine Schwester kümmern und jetzt erstmal ganz für sie da sein. Sie braucht mich jetzt. Außerdem gibt es noch so viele offene Fragen. Was wird aus der Wohnung meiner Eltern und mit ihren persönlichen Dingen? Und vor allem, was wird aus meiner Schwester?“ „Aber natürlich verstehe ich das, Biggi. Und du weißt, wenn du mich brauchst, ruf mich an, egal wann.“ Biggi nickte und ließ sich dann in seine Arme sinken. „Ich werde dich so vermissen.“, seufzte sie niedergeschlagen. Wieder kamen ihr ein paar Tränen. Dann schmiegte sie sich an ihn, am liebsten hätte sie ihn gar nicht mehr losgelassen. „Ich dich auch. Aber bald sehen wir uns ja wieder.“ „So bald? Ich weiß es nicht.“, antwortete Biggi darauf, wobei sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Auch Thomas versetzte der Gedanke daran, Biggi über längere Zeit nicht wieder zu sehen, einen Stich ins Herz. Doch er musste jetzt stark sein. „Würdest du mir den Gefallen tun und für mich einen Flug reservieren? Ich glaube nicht, dass das Motorrad jetzt so günstig wäre.“ „Aber klar doch. Das regeln wir jetzt alles gleich.“ Er führte sie sanft in Richtung Basisgelände und sog jeden Moment in sich ein, in dem er noch bei Biggi sein durfte. Als sie den Aufenthaltsraum betraten, wurden die anderen aus ihren bedrückten Gedanken gerissen. „Biggi fährt nach Wien, zu Barbara.“, gab Thomas ihnen Bescheid. Gabi stand auf, ging zu Biggi und nahm sie erstmal fest in den Arm. „Fährst du heute noch?“, fragte sie sie dann. „Ja, ich muss.“ Biggis Augen waren vom Weinen gerötet und ihre Stimme hörte sich total niedergeschlagen an. „Können wir wirklich nichts für dich tun?“, fragte Michael dann, der sich inzwischen auch zu den beiden gesellt hatte. Thomas war bereits dabei, von Ebelsieders Büro aus beim Flughafen anzurufen. „Soll ich mitfahren?“, fragte Gabi ihre Freundin, ahnte aber bereits die Antwort. Biggi schüttelte den Kopf. „Das ist total lieb, aber ich muss das allein hinbekommen. Barbara wird bestimmt meine volle Aufmerksamkeit brauchen.“ Gabi nickte verständnisvoll. „Komm, setz dich noch mal zu uns.“, meinte sie dann und zog Biggi sanft zum Sofa. Dort setzten sie und Michael sich noch für einige Minuten zu Ralf und Peter. Gabi nahm Biggi noch mal in den Arm, wobei dieser wieder die Tränen kamen. Gabi strich ihr beruhigend über den Rücken und versuchte verzweifelt, selbst wenigstens die Tränen zurückzuhalten. Schließlich kam Thomas rein und meinte: „Ich hab noch den Flieger für drei Uhr Nachmittag gekriegt. Es ist alles geregelt.“ „Danke.“, sagte Biggi leise. Thomas beugte sich zu ihr und wischte ihr zärtlich mit seiner Hand die Tränen vom Gesicht. „Es wird alles gut, Liebling. Du wirst das schaffen, wir sind ja alle für dich da.“ Dann gab er ihr einen liebevollen Kuss auf den Mund. „Du kannst gleich mit mir nachhause fahren, und wir packen ein paar Sachen zusammen.“, schlug Michael vor. Thomas würde nun ja leider hier bleiben müssen, um Biggis Schicht zu fliegen. Biggi nickte. „Ja, danke. Wie spät ist es denn jetzt?“ „Du hast noch genug Zeit.“ „Am besten wir fahren gleich, dann können wir nachher noch einmal herkommen und ich kann mich in Ruhe verabschieden.“, meinte Biggi. „Ganz wie du möchtest.“, antwortete Michael ihr.
Thomas begleitete Biggi noch bis zu Michaels Auto. Vor dem Wagen blieben sie stehen und Thomas nahm Biggi noch einmal ganz fest in die Arme und drückte sie an sich. „Bis nachher. Ich vermisse dich jetzt schon.“, meinte Thomas. „Und ich dich erst.“, antwortete Biggi darauf mit Tränen in den Augen. Sie konnte das alles einfach immer noch nicht glauben. Von einer Minute auf die andere hatte sich so viel verändert. Langsam löste sie sich aus Thomas’ Umarmung und blickte ihn noch einmal sehnsüchtig an, bevor sie ins Auto stieg. Thomas winkte ihr noch, als Michael langsam vom Basisparkplatz fuhr. Biggi winkte ihm zurück während ihr eine Träne über die Wange ran. Sie hatte solche Angst davor, was werden würde. Sie hatte schließlich keine Ahnung, was sie in Wien erwarten würde, und vor allem hatte sie keine Ahnung, wann sie zurückkommen würde.
Als er Michaels Auto schließlich nicht mehr sehen konnte, ging Thomas langsam wieder in den Aufenthaltsraum, wo Ralf, Gabi und Peter am Tisch saßen. Alle waren sichtlich mitgenommen von den heutigen Ereignissen. Thomas ließ sich niedergeschlagen auf einen der Stühle sinken. Biggi tat ihm so Leid und er wollte ihr so gern helfen, doch auch er konnte das Geschehen natürlich nicht rückgängig machen. Wie gern hätte er Biggi nach Wien begleitet und wäre ihr dort beigestanden, doch er wusste auch, dass sie dort erst einmal eine Menge regeln musste und das vielleicht wirklich besser allein. Zudem hätte er mit Sicherheit keinen Urlaub bekommen, jetzt, wo Biggi schon als Pilotin ausfiel. Und Lisa und Laura konnte er auch nicht einfach alleine lassen. Es war alles so kompliziert. Er wusste nur, dass er Biggi wahnsinnig vermissen würde.
Michael und Biggi hatten die Villa nach kurzer Fahrt erreicht und stiegen nun langsam aus. Biggi wohnte nun schon fast ein Jahr hier, seit sie und Thomas damals endlich zueinander gefunden hatten. „Hast du ne Reisetasche zur Hand oder soll ich dir eine leihen?“, fragte der Notarzt seine Kollegin. „Danke, ich hab schon eine.“ „Gut.“ So begaben sie sich gemeinsam die Treppen nach oben in den ersten Stock. Viel brauchte Biggi nicht. Würde sie länger bleiben, müsste sie ohnehin noch einmal herkommen. Michael half ihr, die nötigsten Dinge aus dem Schrank und dem Badezimmer in die Tasche zu packen. Als sie mit allem fertig waren, meinte Michael: „Es bleibt noch genug Zeit für ne heiße Tasse Tee. Die gönnst du dir jetzt noch, ok?“ Biggi nickte dankbar und blieb noch oben im Schlafzimmer, während Michael nach unten ging, um Tee aufzusetzen. Biggi setzte sich aufs Bett und blickte sich um. Das alles würde sie erstmal für ne Weile nicht mehr sehen können. Alles hatte sich plötzlich verändert. Ihr wundervolles Leben, das sie bisher geführt hatte. Ihre Eltern waren nicht mehr da. Schon als Kind hatte sie immer gewusst, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem sie sich von ihren Eltern verabschieden müsste. Aber nicht mal das hatte sie tun können. Sie waren durch einen Unfall einfach aus ihrem Leben gerissen worden. Dabei wären sie noch gebraucht worden. Von Barbara, aber auch von Biggi. Und jetzt durfte sie sich nicht mal mehr an Thomas festhalten, sich die Wärme holen, die sie gerade jetzt so brauchen würde. Sie wurde jetzt selbst gebraucht. Und sie würde alles tun dafür, dass es Barbara besser ginge, doch so einfach war das nicht. Sie selbst hatte nicht die geringste Ahnung, woher sie die Kraft nehmen sollte, über diesen Verlust hinwegzukommen. Biggi traute sich gar nicht, weit in die Zukunft zu denken. Sie wusste, dass Barbara jemanden brauchte, der bei ihr war. Sie war noch viel zu jung, um allein zu wohnen. Und niemand war als Vormund nahe liegender als Biggi. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Natürlich, sie liebte Barbara, aber sie liebte auch Thomas. Wie gern würde sie sie zu sich holen, in die Villa, doch das würde Barbara wohl niemals wollen. Und sie konnte es ihr auch nicht antun, sie nach ihren Eltern auch noch aus ihrem Freundeskreis wegzureißen. Das alles war einfach so kompliziert und es schien keine Lösung zu geben. Zumindest keine, mit der Biggi sich vorstellen konnte, zu leben.
Wenig später kam Michael mit einer Tasse Tee in der Hand zurück und überreichte sie Biggi. „Danke.“, meinte diese nur leise und Michael bemerkte, wie sehr sie das alles mitnahm, was natürlich auch nicht verwunderlich war. Er erinnerte sich noch genau an den Tod seines Vaters. Die Zeit danach war eine der schwersten in seinem Leben gewesen. Wie musste es Biggi dann erst gehen? Sie hatte gleich Mutter und Vater zusammen verloren und musste sich nun auch noch um ihre kleine Schwester kümmern. „Wenn du noch irgendetwas brauchst…“, bot er ihr an. Biggi schüttelte den Kopf. „Danke, ihr habt alle schon viel zu viel für mich getan. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne solche Freunde machen würde.“ „Aber Biggi, das ist doch selbstverständlich, das Wichtigste ist jetzt doch erstmal, dass du dich um deine Schwester kümmern kannst.“ Biggi nickte nur. „Lass uns zur Basis fahren, ich möchte die letzten Stunden noch mit Thomas gemeinsam verbringen.“, meinte sie dann. Michael nickte verständnisvoll und so machten sie sich auf den Weg nach unten. Michael trug Biggis Reisetasche und verlud sie im Kofferraum. Biggi wollte gerade ins Auto einsteigen, als sie sah, wie Lisa und Laura das Gründstück betraten. Die beiden Mädchen waren gerade aus der Schule gekommen. „Nanu? Willst du verreisen, Biggi?“, fragte Lisa überrascht. Biggi nickte betrübt und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Von wollen konnte wirklich nicht die Rede sein, aber hatte sie eine andere Wahl? „Ich muss für eine Weile nach Wien fahren und mich um meine kleine Schwester kümmern.“, erklärte sie den beiden. „Und wann kommst du wieder?“, fragte Laura dann. Biggi lief eine Träne über die Wange. „Ich weiß es nicht…“, sagte sie leise, „Ich hoffe bald.“ Lisa und Laura wussten nicht, was sie sagen sollten, für die beiden kam das alles ein bisschen plötzlich. „Ich werde euch vermissen…“, meinte Biggi dann und umarmte die beiden Mädchen zum Abschied. „Wir dich auch.“ „Lass uns fahren, Michael.“, beschloss Biggi dann jedoch, sie wollte den Abschied nicht noch schlimmer machen als er sowieso schon war. Also stiegen sie ins Auto, Biggi winkte den beiden noch nach, mit einer Träne im Auge. „Du siehst sie bestimmt bald wieder.“, meinte Michael zuversichtlich. „Ich weiß nicht, wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte Biggi ihren Kollegen niedergeschlagen. „So lange wird das doch nicht dauern, oder?“ Biggi schluckte. Michael hatte ja keine Vorstellung. „Wer … wer meinst du … soll sich um Barbara in Zukunft kümmern … wenn … wenn nicht ich?“ „Was soll das heißen?“, fragte Michael schockiert. „Dass ich nicht sicher sagen kann, ob ich nicht in Wien werde bleiben müssen. Ich bin die nächste Verwandte für Barbara. Und nicht nur das, ich bin auch die Vertrauteste für sie.“ Michael wusste nicht, was er sagen sollte. Daran hatte er natürlich absolut nicht gedacht. „Aber da muss es doch eine andere Lösung geben. Du kannst doch nicht alles aufgeben.“, meinte er entsetzt. „Vielleicht bleibt mir nichts anderes übrig.“, sagte Biggi leise. „Aber bitte, sag Thomas nichts davon. Ich muss das erstmal mit mir selbst regeln. Und vielleicht kommt es ja auch gar nicht so weit.“ Michael nickte. „Klar.“ Er musste selbst erst mal verdauen, was Biggi gerade gesagt hatte. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass Biggi vielleicht für die nächsten Jahre ihr gesamtes Leben hier aufgeben müsste. Soweit durfte es einfach nicht kommen. Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Auch auf der Basis war die Stimmung immer noch gedrückt. Als Biggi auf dem Parkplatz aus dem Auto stieg, ließ sie sich erstmal in Thomas’ offene Arme fallen. „Na? Habt ihr alles geschafft?“ Biggi nickte. „Ich schlage vor, wir bringen Biggi dann in einer Stunde zum Flughafen.“, meinte Michael. „Ja, dann kriegst du den Flieger bestimmt ohne Probleme.“, sagte Thomas. Arm in Arm gingen sie schließlich nach drinnen und setzten sich im Aufenthaltsraum aufs Sofa. Thomas lehnte sich zurück, und Biggi schmiegte sich an seine Brust. Er legte seine Arme um sie und drückte sie ganz fest an sich. „Ich werd euch so vermissen.“, seufzte Biggi traurig. „Wir dich auch, mein Schatz. Aber so lange wird es ja nicht sein.“ Biggi erwiderte lieber nichts darauf, sie schmiegte sich nur noch fester an ihn. Sie konnte und wollte es sich nicht vorstellen, lange Zeit von Thomas getrennt zu sein. Sie würde ihn so wahnsinnig vermissen. Meistens vermisste sie ich ihn schon schrecklich, wenn die beiden nur einen oder zwei Tage getrennt waren, was allerdings bis jetzt noch nicht sehr häufig vorgekommen war. Jetzt genoss sie jede Sekunde, in der sie noch in seiner Gegenwart sein konnte. Thomas tat dies ebenso. Er merkte genau, wie schwer es Biggi fiel, jetzt, wo sie selbst Trost und Kraft brauchte, nach Wien zu fahren. Doch es war im Moment nun einmal das einzig Richtige. Sie musste jetzt für Barbara da sein. Im Gegensatz zu ihr hatte ihre kleine Schwester niemanden mehr, der sie tröstend in den Arm nahm und ihr neue Kraft gab. Dafür war Biggi nun zuständig.
So verging die nächste Stunde und der Zeiger der Uhr rannte unaufhaltbar vorwärts. Die Zeit des Abschieds rückte näher. Gabi wollte ihre Freundin zum Flughafen begleiten, da Thomas noch immer Schicht hatte und nicht weg konnte. Als sie es wirklich bis zum Äußersten hinausgezögert hatte und sie nun wirklich los mussten, stand Biggi langsam auf und löste sich aus Thomas’ Umarmung. Dann ging sie auf Michael, Ralf und Peter zu und verabschiedete sich von ihnen. „Bis bald“, meinte Peter und legte ihr aufmunternd die Hand auf die Schulter. Biggi schluckte. Sie hoffte es so sehr, dass sich wirklich alles irgendwie regeln würde und sie alle bald wieder sehen würde, doch sicher war leider noch gar nichts. „Und, wenn wir noch irgendwas für dich tun können, ruf einfach an.“, setzte Ralf dann noch hinzu. Biggi nickte dankbar und umarmte jeden noch einmal zum Abschied. Thomas war nun auch aufgestanden und ging dann mit Biggi Arm in Arm hinter Gabi her nach draußen zum Parkplatz. Die Zeit des Abschieds war nun gekommen. Sie umarmten sich noch einmal ganz fest und hielten sich aneinander fest. Am liebsten hätten sie den anderen gar nicht mehr losgelassen, doch es nützte nichts, der Flieger würde bald gehen und sie waren schon spät dran. „Ich werde dich so schrecklich vermissen.“, sagte Biggi leise und den Tränen nahe. „Ich dich auch, mein Schatz. Aber wir werden das durchstehen, du weißt, du kannst mich jederzeit anrufen, egal, ob Tag oder Nacht.“ Biggi nickte. „Danke, ich werde mich melden, wenn ich angekommen bin.“ Thomas nickte. „Ich liebe dich.“, meinte er dann und strich ihr sanft mit der Hand über die Wange. „Ich dich auch, Thomas, mehr als alles andere auf der Welt.“ Sie sahen sich in die Augen und küssten sich dann lange und innig. Sie wollten gar nicht mehr voneinander ablassen, denn sie wussten beide, dass dann der endgültige Abschied folgen würde – für ungewisse Zeit. Doch schließlich hatten sie keine andere Wahl, Thomas drückte Biggi noch einmal ganz fest an sich, dann musste sie endgültig gehen. Während sie ins Auto einstieg, warf sie ihm einen sehnsüchtigen Blick zu und ihre Augen wurden wieder feucht. Thomas ließ ihr noch einen kleinen Kuss zufliegen und winkte ihr solange sie noch Blickkontakt hatten. Als auch das vorbei war, zog er sich traurig mit Michael, Peter und Ralf in den Aufenthaltsraum zurück.
Eine Stunde später war die Zeit für Biggi endgültig gekommen, sie musste in den Flieger einsteigen. Gabi und sie umarmten sie nochmals innig. „Und du weißt, ich bin immer da für dich, wenn du mich brauchst, ok?“ „Danke. Ich weiß.“, meinte Biggi, und brachte ein missglücktes Lächeln hervor. „Ich rufe gleich an, wenn ich angekommen bin.“ „Mach das. Dann brauchen wir uns wenigstens darum nicht zu sorgen.“ Gabi strich ihr noch mal liebevoll über die Wange und meinte dann wehmütig: „Ich glaube, du musst jetzt.“ „Sieht so aus.“, sagte Biggi nur traurig. Sie drückte Gabi noch mal kurz an sich und drehte sich dann mit einem Ruck um. Es half nichts, sie musste sich losreißen. Sie wurde jetzt gebraucht.
Als sie im Flieger saß und der Boden sich unter ihr immer weiter entfernte, rannen ihr, ohne dass sie es merkte, wieder ein paar Tränen vom Gesicht. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis sie all das wieder sah. All das, was sie so liebte.
In Wien angekommen, versuchte sie so schnell wie möglich, an ihr Gepäck zu kommen und sich auf den Weg zur Wohnung ihrer Familie zu machen. Nachdem sie ihre Reisetasche bei der Ausgabe entgegengenommen hatte, stieg sie draußen vor dem Flughafen in das erste Taxi und fuhr damit in die Innenstadt. Sie war schon längere Zeit nicht mehr hier gewesen. Seit sie mit Thomas zusammen war, hatte sie eben jede freie Minute genützt, die sie mit ihm verbringen konnte. Jetzt bereute sie es, nicht öfter ihre Eltern und Barbara besucht zu haben. Natürlich, sie hatte oft telefoniert, aber wann hatte sie ihre Mutter das letzte Mal im Arm gehalten? Oder ihren Vater? Das war schon länger her. Und nun würde sie es nie wieder tun können. Das versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz. Klar, nachher war man immer klug. Nachher sah man immer seine Fehler ein.
Die Fahrt dauerte etwa eine knappe halbe Stunde. Als sie schließlich im achten Bezirk vor einem schönen, altbürgerlichen Mietwohnungshaus stehen blieb, atmete sie noch mal tief durch, bevor sie ausstieg. Nachdem sie den Fahrer bezahlt hatte, stieg sie die Treppen bis zum zweiten Stock hoch. Wenige Sekunden nach ihrem Klingeln wurde die Tür auch schon geöffnet. Biggi blickte in die tränengeröteten Augen ihrer kleinen Schwester, die sie ebenso wie ihre Eltern vor über einem Jahr das letzte Mal gesehen hatte. Sie sahen sich einen Augenblick an, dann fielen sie sich schweigend in die Arme. Es bedurfte in dieser Situation keiner großen Worte. Barbara war einfach nur froh, dass ihre große Schwester da war. Den ganzen Tag, seitdem sie von dem schrecklichen Unfall erfahren hatte, hatte sie sich in der elterlichen Wohnung verschanzt, sich in ihrem Bett verkrochen und mit niemandem gesprochen. Sie stand noch immer vollkommen unter Schock und konnte es einfach nicht begreifen, dass ihre Eltern tot und sie nun vollkommen auf sich allein gestellt war. Nein, nicht ganz… sie hatte ja noch Biggi.
Zur selben Zeit saß Thomas alleine in seinem und Biggis Schlafzimmer und betrachtete ein Foto von ihr. Er vermisste sie schon jetzt, obgleich sie erst wenige Stunden fort war. Immer wieder stellte er sich die Frage, warum es so weit gekommen war? Es hätte alles so schön werden sollen. Biggi und er hatten geplant, an diesem Abend das schöne Wetter zu nutzen und ein romantisches Picknick am Waldsee zu machen. Thomas hatte es alles schon genau geplant gehabt, hatte die Worte schon tausend Mal vor dem Spiegel geübt, um sie an diesem Abend Biggi gegenüber auszusprechen. Er war sich so sicher gewesen, dass dies der perfekte Ort und der perfekte Zeitpunkt dafür gewesen wäre… für einen Heiratsantrag. Doch nun war alles anders gekommen und er musste den Abend allein verbringen, ohne seine Biggi, genau wie noch viele weitere Abende….
Biggi und Barbara gingen währenddessen langsam ins Wohnzimmer und ließen sich dort auf dem großen, gemütlichen Sofa nieder. Als war alles noch so, wie Biggis Eltern es verlassen hatten und es war so, als würde jeden Moment die Tür aufgehen, die beiden hereinkommen und ihre Töchter begrüßen. Doch sie würden nie wieder zurückkommen – niemals. Biggi hatte Barbara in den Arm genommen und sie weinten beide ein bisschen. „Jetzt haben wir nur noch uns.“, meinte Barbara dann nach einer Weile. Biggi nickte. „Zusammen werden wir das schon schaffen, hm?“, versuchte sie möglichst etwas Aufmunterndes zu sagen. Barbara zuckte nur die Schultern. „Ich vermisse sie so schrecklich.“, meinte sie leise. Biggi schluckte. „Ich doch auch. Aber das Leben muss weitergehen, so schwer es uns auch fällt. Auch wenn es im Moment aussichtslos aussieht, es gibt immer einen Weg und zusammen schaffen wir das. Mama und Papa hätten es so gewollt, da bin ich mir sicher.“ Barbara dachte über Biggis Worte nach. Irgendwie hatte sie Recht, ihre Eltern hätten gewollt, dass sie ihr Leben nicht aufgab und weitermachte, egal, wie schwer es auch war.
So redeten die beiden noch den ganzen Abend. Biggi versuchte Barbara Mut zu machen, obgleich sie selbst eigentlich nicht die Kraft dazu hatte, doch sie musste jetzt stark sein, sie war erwachsen, konnte selbst auf sich aufpassen, aber Barbara? Sie war doch noch fast ein Kind.
Irgendwann, schon nach Mitternacht, schlief Barbara dann total erschöpft von dem schlimmen Tag ein. Biggi fiel ein, dass sie noch versprochen hatte, Thomas anzurufen. Das hatte sie in der ganzen Aufregung total vergessen. Hoffentlich machte er sich keine Sorgen. Sie stand vorsichtig auf und ging in den Flur, wo das Telefon stand. Langsam wählte sie die Nummer und vernahm wenig später am anderen Ende der Leitung ein Klingeln. Nachdem sie es dreimal klingeln lassen hatte, meldete Thomas sich schließlich am anderen Ende. Michael war schon vor Stunden schlafen gegangen und hatte auch ihn dazu zu überreden versucht, doch ohne Erfolg. Thomas wusste, dass Biggi anrufen wollte, und er hatte sich vorgenommen, so lange wach zu bleiben, bis sie dies tat. Sie brauchte ihn doch jetzt und er wollte für sie da sein, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. „Biggi?“, meldete er sich erwartungsvoll. „Ja, ich bin’s.“ Biggi hörte ein erleichtertes Aufatmen. „Mein Schatz, wie schön, dich zu hören.“ „Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.“ „Nein, ich konnte doch noch gar nicht schlafen.“ „Tut mir leid, dass es so spät geworden ist mit dem Anruf.“ „Aber das ist doch klar, du musstest dich bestimmt erstmal um Barbara kümmern. Wie geht es ihr?“ „Sie ist tapfer. Aber natürlich war es ein großer Schock für sie.“ „Verstehe ich.“ „Wir haben lange miteinander geredet. Das hat uns beiden gut getan, glaube ich. Aber wie es weitergehen soll, das weiß ich nicht.“ Stille. „Ich vermisse dich so, Thomas.“, meinte Biggi dann traurig. „Ich dich auch.“ Das Schlimmste für beide war, dass sie nicht wussten, wann sie sich wieder sehen würden. Thomas dachte wieder daran, was er an diesem Abend eigentlich vorgehabt hatte. Es hätte so schön werden sollen…. Und nun war Biggi in Wien, viele Kilometer entfernt von ihm, und niemand konnte im Moment sagen, wann sie zurückkommen würde. „Ich liebe dich.“, meinte Thomas leise und Biggi hörte die Traurigkeit aus seiner Stimme heraus. „Ich dich auch, unendlich.“ Wie gern wäre sie jetzt einfach nur bei ihm gewesen, hätte sich von ihm in den Arm nehmen und trösten lassen. Sie brauchte ihn jetzt, doch Barbara brauchte sie und sie konnte ihre Schwester nicht allein lassen. Noch eine Weile redeten sie miteinander und Thomas versuchte, Biggi Mut zu machen, obgleich er selbst nicht genau wusste, wie es eigentlich weitergehen sollte. „Schlaf gut, mein Liebling.“, meinte Thomas dann, als sie das Gespräch beendeten. „Du auch, ich melde mich morgen wieder, versprochen.“ „Ok. Ich denke an dich.“ „Ich auch an dich, und ich vermisse dich jede Sekunde mehr.“ „Ich dich auch, aber es ist ja hoffentlich nicht für lange.“, meinte Thomas und versuchte dabei aufmunternd zu klingen. „Ja, hoffentlich.“, seufzte Biggi leise. „Ich liebe dich.“ „Ich dich auch.“ Dann legten sie schweren Herzens auf. Es war schon weit nach Mitternacht und sie waren beide todmüde. Am nächsten Morgen hatte Thomas zum Glück die Spätschicht. Ebelsieder hatte es geschafft, bereits für die Frühschicht einen Ersatzpiloten zu organisieren, der Biggi auf unbestimmte Zeit vertreten sollte.
Nachdem Biggi aufgelegt hatte, begab sie sich ins Gästezimmer. Sie wollte nicht in den Betten ihrer Eltern schlafen. Langsam ließ sie sich aufs Bett sinken. Sie vermisste Thomas jetzt schon so sehr. An diesem Abend war niemand da, an den sie sich kuscheln konnte und der sie in den Arm nahm, während sie einschlief. Langsam rann ihr eine Träne über die Wange. Jetzt, wo sie im Bett lag und alles still um sie herum war, liefen die gesamten Ereignisse noch einmal revue vor ihren Augen ab. Es war alles so schrecklich. Wie sollte es nur weitergehen? Auf jeden Fall würde sie erst einmal in Wien bleiben müssen und versuchen Barbara zu helfen über den Tod ihrer Eltern hinwegzukommen. Und dann? Wer sollte sich dann um Barbara kümmern? Biggi wollte den Gedanken nicht wahr haben, dass sie es sein würde, sie versuchte ihn zu verdrängen, doch es funktionierte nicht. So grübelte sie noch stundenlang darüber nach, bis sie irgendwann in den frühen Morgenstunden erschöpft in den Schlaf fiel.
Nur wenige Stunden später wurde sie von einer verstörten Barbara geweckt. Sie sah ganz verheult aus und immer noch rannen ihr Tränen übers Gesicht. „Ich hatte einen Alptraum.“, weinte sie. Hilfe suchend ließ sie sich von Biggi in den Arm nehmen. „Na komm her. Schlaf bei mir weiter. Hier kriegst du bestimmt keinen Alptraum mehr.“, schlug Biggi vor. Und so krabbelte Barbara zu Biggi unter die Bettdecke und kuschelte sich an sie. „Möchtest du mir von dem Traum erzählen?“, fragte Biggi sie lieb. Barbara überlegte erst, meinte aber dann: „Lieber nicht. Es war so schrecklich, darüber will ich nicht reden. Es hatte mit Mama und Papa zu tun.“ Biggi nickte verständnisvoll. Bestimmt war es nicht das letzte Mal, da war sie sich sicher. Und wieder einmal wurde ihr bewusst, dass sie von Barbara gebraucht wurde. Und das nicht nur für kurze Zeit. Sie war die einzige, die noch da war. Biggi atmete tief durch und wartete, bis Barbara an ihrer Seite wieder eingeschlafen war. Sie selbst allerdings konnte lange nicht mehr einschlafen. Gegen sieben Uhr morgens gab sie es auf. Total übermüdet stand sie schließlich leise auf und begab sich ins Bad, um sich dort erst einmal eine heiße Dusche zu gönnen. Das brauchte sie jetzt wirklich. Danach beschloss sie für sich und Barbara ein Frühstück herzurichten. Wie sie ihre Eltern kannte, hatten sie alles im Haus. Und so war es auch. Biggi deckte den Tisch, kochte Kaffee und schob vier Aufbackbrötchen in den Backofen. Sie wusste, dass Barbara diese am liebsten hatte. Gerade als sie alles fertig hatte, hörte sie Schritte im Flur und wenige Sekunden später steckte Barbara den Kopf in die Küche. „Du bist schon auf?“, fragte sie Biggi verschlafen. „Ja, ich konnte nicht schlafen.“ „Ich auch nicht.“ „Biggi?“ „Ja?“ „Muss ich heute in die Schule? Ich glaube, ich schaffe das nicht…“ „Nein, natürlich nicht. Ich glaube, wir müssen beide erstmal die Ereignisse verarbeiten. Am besten du bleibst jetzt erst einmal ein paar Tage zuhause.“, meinte Biggi, während sie Barbara eine Tasse Kaffee einschenkte und diese sich zu ihr an den Tisch setzte. Sie nickte nur schweigend. „Wie soll es jetzt überhaupt weitergehen?“, fragte sie dann zögernd, „Ich meine, jetzt, wo Mama und Papa nicht mehr da sind.“ „Erstmal werde ich mich auf jeden Fall um dich kümmern.“, erklärte Biggi ihr und sie merkte, wie erleichtert Barbara über ihre Antwort war. „Aber du hast doch einen Job…“, zweifelte sie dann jedoch. „Ich habe erst einmal bis auf unbestimmte Zeit Urlaub genommen und werde erstmal bei dir in Wien bleiben, dann werden wir weitersehen“ „Und was sagt dein Freund dazu?“ Biggi schluckte. Sie wusste selbst noch nicht, wie sie es Thomas beibringen sollte, dass sie wohl noch eine ganze Weile in Wien bleiben musste. Sie konnte Barbara jetzt auf keinen Fall allein lassen. Zudem musste noch viel geregelt werden, in den nächsten Tagen würde ihnen erst einmal ein weiteres schweres Ereignis bevorstehen, die Beerdigung ihrer Eltern. Sicher, Thomas würde bestimmt Verständnis zeigen, doch Biggi wusste, wie sehr er sie vermisste. Ihr ging es da nicht anders. Wenigstens würden sie sich wieder sehen, wenn sie in ein paar Tagen noch einmal nach Traunstein zurückkehren müsste, um ihre Sachen zu holen. Erst einmal hatte sie nur das Nötigste mitgenommen. „Er wird es verstehen und akzeptieren.“, meinte sie dann zu Barbara. „Du musst ihn übrigens unbedingt mal kennen lernen, er ist total lieb.“ Barbara nickte. „Ist er auch Pilot?“, fragte sie dann. „Ja. Er arbeitet auf demselben Stützpunkt wie ich, nur natürlich in einem anderen Team.“ „Wie sieht er aus?“ „Wie er aussieht? Hier, ich hab ein Foto von ihm.“ Biggi zog ein Foto aus ihrer Tasche und hielt es Barbara hin. „Er sieht wirklich lieb aus. Und gut.“, meinte diese dann nach einer kurzen Inspizierung. Biggi nickte nur. Ja, lieb, das war er. Und gut aussehend. Und der wundervollste Mann, den es auf der ganzen Erde gab. Doch er war nicht hier. Biggi hatte Mühe, eine Träne zurückzuhalten. Sie vermisste ihn so. Aber das musste sie erstmal durchhalten. „Wohnst du schon bei ihm?“, fragte Barbara dann. Sie schien glücklich darüber zu sein, ein Gesprächsthema gefunden zu haben, das sie nicht an ihre Eltern erinnerte. „Ja. Bei ihm, seinen Töchtern, noch einem Kollegen von uns und dessen Sohn.“ „Ist der Kollege auch Pilot?“ „Nein, er ist Notarzt.“ „Wie viele Töchter hat dein Freund denn?“ „Zwei. Lisa und Laura, mit denen würdest du dich bestimmt auch gut verstehen. Sie sind elf und dreizehn.“ „Die sind ja noch total klein.“ „Also hör mal, du bist immerhin auch erst sechzehn.“ „Wie heißt er überhaupt, dein Herzbube?“ „Thomas.“ Biggi hielt inne. Normalerweise sprach sie diesen Namen nur aus, wenn sein Träger sich auch in der Nähe befand. Aber das war diesmal nicht der Fall. „Vermisst du ihn?“, fragte Barbara weiter. Biggi nickte. „Ein wenig.“ Sie wollte vor Barbara nicht zugeben, dass sie Thomas so vermisste, dass es schon wehtat. Am Ende bekam diese noch ein schlechtes Gewissen, weil sie Biggi durch ihre Hilflosigkeit ihrem Freund entzog. Stattdessen lenkte Biggi vom Thema ab. „Möchtest du noch ein Brötchen?“, fragte sie. „Ja, bitte.“ Also stand Biggi auf, um noch ein Brötchen aus dem Backofen zu holen. Sie hatte noch welche drin gelassen, damit sie warm blieben. Sie schnitt es in zwei Teile, strich Himbeermarmelade drauf und klappte es zu. Nachdem sie es Barbara auf den Teller gelegt hatte, nahm diese vorsichtig den oberen Teil ab und lugte auf die Marmelade. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Doch.“, meinte Barbara nur und schniefte. Nach und nach kullerte plötzlich eine Träne nach der anderen über ihr Gesicht. „Was ist los?“, fragte Biggi besorgt. „Es ist nur… Mama … sie … sie hat mir immer einen Smilie aufs Brot gestrichen … mit der Marmelade.“ Biggi schluckte und legte dann tröstend den Arm um ihre kleine Schwester. Immer wieder wurde ihr bewusst, dass es lange dauern würde, sehr lange, bis Barbara den Tod ihrer Eltern verkraftet haben würde.
Zur selben Zeit begann auf der Basis die Frühschicht. Ralf und Gabi saßen im Aufenthaltsraum und warteten auf den neuen Piloten, der zunächst mit Ebelsieder in dessen Büro verschwunden war, um einige Formalitäten zu regeln. „Es ist so seltsam, ohne Biggi…“, meinte Gabi nach einer Weile. „Du hast Recht, es fehlt irgendwie etwas, wenn sie nicht hier ist.“, bemerkte auch Ralf. Sie waren nun schon seit Jahren ein eingespieltes Team gewesen, hatten Morgen für Morgen, wenn sie Frühschicht hatten, gemeinsam gefrühstückt. Meistens war es Biggi gewesen, die immer die gute Laune mit in die Basis gebracht hatte, während alle anderen sich noch verschlafen wieder zurück ins Bett wünschten. Doch heute war alles anders. Die Sonne schien, es war wieder ein wunderschöner Tag, doch Biggi war nicht hier. „Meinst du, sie wird lange in Wien bleiben?“, fragte Ralf Gabi dann. Gabi zögerte kurz. „Ich befürchte es. Sie muss sich ja erstmal um ihre Schwester kümmern. Und wer weiß, wie es dann weitergeht, immerhin ist Barbara gerade erst sechzehn.“ Ralf nickte. „Es wird sicher nicht leicht werden, für Biggi und Thomas.“ Gabi wollte ihm gerade etwas antworten, als Ebelsieder mit dem neuen Piloten den Aufenthaltsraum betrat. „Frau Dr. Kollmann, Herr Staller, das ist Rene Meier, er wird sie in der Zeit von Frau Schwerins Abwesenheit durch die Luft kutschieren.“ Rene ging auf seine beiden neuen Kollegen zu, während er sie musternd ansah. Dann gab er ihnen die Hand. „Meier, Pilot.“ Auch Gabi und Ralf stellten sich vor. Dann warfen sie sich einen viel sagenden Blick zu. Schon seit der ersten Sekunde war ihnen dieser Rene unsympathisch, doch sie würden ihn wohl die nächste Zeit ertragen müssen. Wenn Biggi jetzt doch nur hier wäre… Doch Biggi war in Wien und dort würde sie auch noch eine ganze Zeit bleiben müssen. Gabi kannte ihre beste Freundin gut genug, um zu wissen, dass Biggi sich jetzt erstmal um Barbara kümmern würde und alles andere wohl oder übel hinten anstellen würde.
Die erste Schicht mit dem neuen Piloten verlief alles andere als angenehm. Andauernd hatte Rene etwas zu bemeckern. Und wenn er das mal nicht tat, lag er auf der faulen Haut, während Gabi und Ralf den Heli schrubbten oder die Medikamente checkten. Sie waren froh darüber, dass sich wenigstens die Anzahl der Einsätze in Grenzen hielt und sie Rene so die meiste Zeit gut aus dem Weg gehen konnten. Am Nachmittag trudelten schließlich Thomas und Michael auf der Basis ein. Thomas machte ein Gesicht, das einer Nacht ohne Biggi mehr als entsprechend war. Lustlos hängte er seine Jacke an den Haken und bekam so unfreiwillig gleich die Lederjacke seines neuen Kollegen zu Gesicht. Ruckartig drehte er sich weg und begab sich in den Umkleideraum. Dort fiel sein Blick auf sein und Biggis Sofa. Er schluckte. Dann setzte er sich langsam an den Rand des Sofas. Gestern war er noch mit Biggi hier gelegen, aneinandergekuschelt. Und heute war sie schon hunderte Kilometer weit weg. Und das nicht nur für kurze Zeit. Was sie wohl gerade macht? Ob sie an ihn dachte?
Und ob Biggi an ihn dachte. Andauernd war sie mit den Gedanken bei ihm. Vor allem, als sie am späten Nachmittag erschöpft von einem Gespräch mit dem Priester nachhause kam, der für die Beerdigung ihrer Eltern verantwortlich war. Sie hätte nie gedacht, dass eine Beerdigung so eine komplizierte Angelegenheit war. Zu ihrem Glück war sie zuvor allerdings auch noch nie in so eine Situation gekommen, was sich nun ja von Schlag auf Schlag geändert hatte. Kurz bevor sie bei der Wohnung ankam, blieb sie noch mal an einer Ecke stehen und zog ihr Handy raus. Langsam tippte sie Thomas’ Nummer ein. Dieser saß gerade am Salzachufer und dachte an sie. Als sein Handy klingelte, zog er es sofort raus und nahm ab. „Wächter?“ „Ich bin’s.“, hörte er Biggis traurige Stimme. „Mein Schatz, ist das schön deine Stimme zu hören. Wie geht’s dir?“ „Es geht so. Ich war gerade beim Priester und hab alles für die Beerdigung geregelt. Ich vermisse dich so, Thomas.“ „Ach und wie ich dich erst vermisse.“, sagte er darauf traurig. „Aber das Wichtigste ist, dass du jetzt erstmal alles in Wien regelst, auch wenn es mir schwer fällt, dich nicht in meiner Nähe zu haben.“ „Ach Thomas, wenn du wüsstest, wie gern ich diesen Zustand ändern würde. Aber Barbara geht es nicht gut, sie braucht mich. Ich werde übermorgen, wenn wir die Beerdingung hinter uns haben, nach Traunstein kommen und ein paar Sachen holen. Ich werde auf jeden Fall länger hier bleiben, müssen. Es tut mir so Leid.“ „Aber Biggi, das muss dir doch nicht Leid tun. Deine Schwester braucht dich jetzt.“ „Aber was ist mit uns, wenn ich erstmal nach Wien gehe?“, fragte sie dann zögernd. Thomas schluckte, er wollte es nicht wahr haben, dass Biggi für längere Zeit in Wien bleiben würde, obwohl es sich im Moment so anhörte. „Ich könnte doch mitkommen nach Wien.“, überlegte Thomas dann. Daran hatte Biggi noch gar nicht gedacht und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Doch dann dachte sie sofort an Lisa und Laura. „Und was ist mit Lisa und Laura, du kannst sie nicht aus ihrem Freundeskreis herausreißen, nur wegen mir.“, wandte sie traurig ein. Thomas musste zugeben, dass sie Recht hatte. Das stellte ein Problem dar. Aber irgendeinen Weg musste es doch geben… Natürlich wusste er, dass Biggi mit Barbara auch unmöglich nach Traunstein kommen konnte, denn dann würde sie den Kontakt zu all ihren Freunden verlieren, und das nach dem Tod ihrer Eltern. Unmöglich. Biggi war an Wien gebunden und er an Traunstein. „Wir werden schon eine Lösung finden…“, versuchte er dann Biggi aufzumuntern. Ihm fiel zwar im Moment keine ein, doch es musste einfach eine geben. „Hoffentlich.“, zweifelte sie. „Ich liebe dich so sehr, Thomas, und ich will dich nicht verlassen müssen.“ „Ich weiß Biggi, ich weiß. Aber selbst wenn es so kommen sollte, dass du in Wien bleibst und ich hier, dann können wir uns noch immer an den Wochenenden sehen.“ Das war für Biggi nur ein kleiner Trost, sie wollte Thomas die ganze Zeit bei sich haben und vermisste ihn jetzt schon schrecklich. Am liebsten wäre sie sofort zurück nach Traunstein gefahren, doch sie wusste, dass das unmöglich war. Zunächst stand ihr die Beerdigung ihrer Eltern bevor. Gerade jetzt brauchte sie Thomas. Sie brauchte jemanden, der sie in den Arm nahm und sie tröstete. Doch er war nicht da, sie würde es allein durchstehen müssen, mit Barbara, die nun den Trost ihrer großen Schwester brauchte. „Du weißt, dass ich dich am liebsten jede Sekunde meines Lebens bei mir haben würde.“, meinte sie niedergeschlagen. „Ich weiß. Ich dich ja auch.“, sagte Thomas unglücklich. „Aber das werden wir jetzt einfach durchstehen. Egal, wie hart es ist. Du weißt ja, in guten wie in schlechten Zeiten.“, fügte er hinzu. „Das scheint gerade eine äußerst schlechte Zeit zu sein.“, seufzte Biggi traurig. „Ja, scheint so.“ „Was machst du denn gerade?“ „Ich…“ Thomas zögerte. „Bist du am Fluss?“ „Ja. Und ich würde alles dafür geben, dich jetzt bei mir zu haben.“ Langsam rann Biggi eine Träne über die Wange. Sie sagte nichts. „Biggi?“ „Ich… ich würde auch alles dafür geben.“ Thomas hörte aus ihrer Stimme heraus, dass sie weinte. Er erschrak. „Biggi, Liebling, nicht weinen … bald sehen wir uns ja wieder.“ „Ja, bald … aber nicht jetzt.“ „Nein, leider.“ „Thomas, es tut mir so Leid, aber ich muss Schluss machen. Barbara wartet bestimmt schon.“ „Ich verstehe. Wann ist Barbara denn im Bett?“ „Spätestens um elf Uhr. Kann ich dich dann wieder anrufen?“ “Können? Du musst.“ „Ich freue mich schon.“, meinte Biggi leise. „Ich mich auch, mein Schatz. Ich liebe dich.“ „Ich dich auch.“ Schweren Herzens legten sie auf. Biggi atmete tief durch und machte sich auf zur Wohnung. Es waren ja nur noch ein paar Schritte. Als sie die Wohnungstür öffnete, wurde sie von Barbara bereits erwartet. Sie verbrachten den Rest des Tages mit einem langen Gespräch über die Zukunft, wobei allerdings niemand eine richtige Lösung fand. Um halb elf gähnte Barbara und meinte erschöpft: „Ich gehe jetzt ins Bett.“ „Mach das. Du brauchst den Schlaf.“, stimmte Biggi ihr zu. „Bist du traurig, weil du nicht bei Thomas sein kannst?“ „Wie kommst du darauf?“ „Du hast so einen sehnsüchtigen Blick.“ „Das täuscht. Ich bin wohl auch müde.“ Barbara nickte. „Gute Nacht.“ Sie drückte Biggi einen Kuss auf die Wange und begab sich in ihr Zimmer. Biggi blieb eine Weile auf dem Sofa sitzen. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster. Als sie um elf schließlich zum Hörer greifen wollte, klingelte dieser selbst. Nein, es war gar nicht der Hörer. Es war die Tür. Wer sollte jetzt noch kommen? Ein Bekannter ihrer Eltern? Langsam trottete sie zur Wohnungstür und drückte die Klinke herunter. Ihr Herz blieb fast stillstehen, als sie sah, wer dahinter stand. „Du?“, fragte sie fassungslos. „Ja. Ich.“, sagte Thomas leise und seine Augen strahlten. Zwei Sekunden lang blickten sie sich nur an, doch dann fielen sie sich überglücklich in die Arme. Minutenlang drückten sie sich nur aneinander und sogen die Nähe und Wärme des anderen in sich auf. Als sie kurz voneinander abließen, fragte Biggi, die es immer noch nicht glauben konnte: „Wie? Warum?“ „Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Wir haben nur ein paar Stunden. Um fünf muss ich die Maschine zurück nehmen. Aber dann wird ja ohnehin bald Barbara aufwachen.“ „Ach Thomas, ich bin so glücklich.“ Es folgte ein leidenschaftlicher, inniger Kuss. Biggi zog Thomas in die Wohnung und schließlich ins Wohnzimmer, wo sie sich gemeinsam aufs Sofa sinken ließen. Sie waren beide so froh, wieder bei dem anderen zu sein, und Biggi konnte es noch gar nicht richtig glauben, dass Thomas da war. Für einen Moment konnte sie die ganze Trauer und den ganzen Schmerz vergessen. Sie dachte nur an sich und Thomas und alle Sorgen waren vergessen. Thomas küsste sie zärtlich und begann dann, langsam ihre Bluse aufzuknöpfen. Biggi lächelte ihn verliebt an und zog ihm das T-Shirt über den Kopf. Zwischendurch küssten sie sich immer wieder. Schließlich hatten sie sich aller Kleidung entledigt und küssten sich immer leidenschaftlicher und stürmischer. Sie verbrachten eine wundervoll romantische Nacht miteinander und lebten alle Gefühle aus, die sie in den letzten Tagen nicht hatten ausleben können.
Biggi lag in Thomas’ Armen und blickte ihn an. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie und küsste ihn sanft. „Ich dich auch und ich werde niemals damit aufhören, egal was passiert.“ Wieder küssten sie sich zärtlich. Thomas zog die Wolldecke, mit der sie sich zugedeckt hatten, ein Stück höher, damit Biggi nicht fror und sie kuschelte sich noch enger an ihn. Irgendwann schlief sie dann total übermüdet ein. In der letzten Nacht hatte sie schon kaum Schlaf gefunden und auch jetzt war es weit nach Mitternacht. Thomas hatte noch eine Stunde, bis er sich ein Taxi zum Flughafen nehmen müssen würde. Wie gern wäre er bei Biggi geblieben, doch auch wenn er alles dafür gegeben hätte, er musste einsehen, dass es nicht ging. Wegen seiner Töchter und wegen seines Jobs. Lächelnd betrachtete er Biggi, die in seinen Armen lag und schlief. Er genoss jede Sekunde, die sie noch zusammen verbringen wollten, er wusste schließlich nicht, wann sie sich das nächste Mal wieder sehen würden, nachdem Biggi ihre Sachen geholt haben würde. Er konnte schließlich schlecht jede Nacht zu ihr nach Wien fliegen, auch wenn er nichts lieber getan hätte als das. Als er langsam los musste, stand er ganz vorsichtig und leise auf, um Biggi ja nicht zu wecken. Sie war sicherlich total erschöpft und der Schlaf tat ihr gut. So zog Thomas sich leise an und schrieb ihr dann noch einen Zettel.
Liebe Biggi,
Du hast so süß geschlafen, dass ich dich nicht wecken wollte. Nun ist die Stunde des Abschieds leider gekommen. Am liebsten würde ich jede Nacht einfach zu dir nach Wien fliegen. Ich vermisse dich schon jetzt wieder, wenn ich daran denke, dass wir uns erst übermorgen wieder sehen und du danach erst einmal länger in Wien bleibst. Doch ich weiß auch, dass du dich jetzt um deine Schwester kümmern musst und dass das jetzt das Wichtigste ist. Gemeinsam werden wir das schon durchstehen, du weißt doch, in guten wie in schlechten Zeiten…
Du weißt ja, du kannst mich immer anrufen und ich bin immer da, wenn du mich brauchst. Ich liebe dich unendlich.
Thomas
Thomas legte den Brief neben Biggi auf den kleinen Tisch, der neben dem Sofa stand. Dann beugte er sich über sie, strich ihr sanft mit der Hand über die Wange und gab ihr dann einen sanften Kuss auf den Mund, jedoch so, dass sie nicht aufwachte. Dann musste er schweren Herzens endgültig gehen. Der Flieger wartete leider nicht.
Am nächsten Morgen hatte das A Team Frühschicht. Michael und Peter waren bereits fertig umgezogen, als Thomas verschlafen die Basis betrat. Er war gleich vom Flughafen zur Arbeit gefahren, anders wäre er zu spät gekommen. Michael, der natürlich bemerkt hatte, dass Thomas die Nacht nicht zuhause verbracht hatte, sah ihn fragend an. „Wo warst du denn die ganze Nacht?“, wollte er von seinem Freund wissen. „Bei Biggi“, antwortete Thomas ihm gähnend. „Bei Biggi in Wien?“ Michael und Peter sahen sich erstaunt an. „Ja, ich bin gestern Abend hingeflogen und eben wieder zurück.“ „Hast du sie so vermisst?“, fragte Peter mitfühlend. Thomas nickte nur. „Ich hab ohnehin keine Ahnung, wie das weitergehen soll. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte. Und ihr geht es genauso.“ „Wie geht es ihr denn überhaupt?“, fragte Michael nach. „Barbara braucht sie, das steht fest. Es geht ihr nicht besonders gut, und Biggi auch nicht.“, meinte er traurig. „Wann kommt sie denn zurück?“ „Übermorgen. Nach der Beerdigung. Aber nur, um ein paar Sachen zu holen. Dann fährt sie wieder nach Wien.“ Thomas neigte den Kopf nach unten. Die anderen beiden sollten nicht sehen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Michael jedoch bemerkte es auch, ohne seinem Freund in die Augen zu sehen. Er umarmte ihn freundschaftlich und meinte zuversichtlich: „Du wirst schon sehen, auch diese Zeit geht mal vorbei. Biggi wird eine Lösung finden, früher oder später.“ „Ja, aber welche wohl? Welche Lösungen gibt es denn? Biggi ist die einzige, die Barbara noch hat.“ „Hatten ihre Eltern denn keine Geschwister?“ „Doch, soweit ich weiß schon, aber das könnte sie Barbara wohl nicht zumuten. Die wohnen irgendwo in Luxemburg oder so. Biggi hat sie selbst kaum gesehen.“ „Dann ist es wirklich schwierig.“, meinte Michael nachdenklich betrübt. Thomas beschloss, sich erstmal umzuziehen. Die Schicht hatte schließlich beinahe begonnen. Als er den Umkleideraum betrat, versuchte er, nicht auf das Sofa zu sehen, das wieder all die Erinnerungen hoch strömen hätte lassen, und das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Er musste sich auf die Arbeit konzentrieren. Vor ein paar Stunden hatte Biggi noch in seinen Armen gelegen. Immer noch spürte er ihre weichen Lippen auf den seinen, ihren angenehmen Duft in seiner Nase und ihren Kopf auf seiner Brust. Auf der Innenseite des Spinds hatte er ein Foto von ihr kleben. Verträumt sah er es sich an. Sie war so wunderschön. So wunderschön, dass er sie am liebsten Tag und Nacht immer nur anblicken würde. Doch das ging nicht, schon gar nicht jetzt.
Ungefähr zur selben Zeit, als Thomas in Biggis Anblick versank, erwachte diese aus einem tiefen Schlaf. Erst wusste sie gar nicht, wo sie sich befand, bis alle Bilder der vergangenen Nacht wieder vor ihr auftauchten. Es war eine wundervolle Nacht mit Thomas gewesen. Und nun war er schon wieder weg. So konnte das unmöglich weitergehen. Ihre Liebe zueinander bedeutete zurzeit nur Leid, kaum etwas anderes. Aber es musste wohl so sein. Zumindest ließen es die Umstände nicht anders zu. Als Biggi den kleinen Brief auf dem Tisch entdeckte, nahm sie ihn, faltete ihn auseinander und las. Ganz langsam, jedes einzelne Wort ließ sie auf sich einwirken. „Ich liebe dich auch unendlich, Thomas.“, flüsterte sie, als sie fertig war. Sie kam nicht dazu, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, und dafür war sie dankbar. Barbara stand plötzlich in der Tür und fragte: „Gibt es schon Frühstück?“ „Ja, sofort. Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“ Barbara schüttelte den Kopf. „Ich hab wieder dasselbe wie gestern geträumt.“ „Oh nein.“, seufzte Biggi mitfühlend. „War es schlimm?“ Barbara nickte nur. „Komm her.“, sagte Biggi, worauf Barbara sich zu ihr aufs Sofa setzte. Dann nahm sie ihre kleine Schwester erstmal in den Arm. „Wird das jetzt immer so sein?“, fragte diese Biggi ängstlich, während ihr eine Träne nach der anderen über die Wangen kullerte. „Bestimmt nicht.“, tröstete Biggi sie. „Es wird bald aufhören, glaub mir. Mama und Papa achten von dort oben schon darauf, dass es dir gut geht.“ „Meinst du?“, fragte Barbara ihre große Schwester ungläubig. „Ich bin doch keine zehn mehr, Biggi.“ „Nein, aber um an etwas zu glauben, kann man auch mit hundert noch nicht zu alt sein. Verstehst du? Mama und Papa haben doch auch immer daran geglaubt.“ „Das stimmt.“, musste Barbara eingestehen und erinnerte sich daran, wie ihre Mutter ihr immer von Oma erzählt hatte, die dort oben in den Wolken säße und auf sie herabsehe. „Und weißt du, worauf Mama jetzt bestimmt auch geachtet hat?“, fragte Biggi, während sie Barbara auf die Nase stupste. „Worauf?“ „Darauf, dass wir leckere Brötchen in der Küche haben, die ich uns gleich mal aufbacken werde. Ok?“ „Ok.“ Barbara lächelte ein wenig. Das erste Mal, seit dem Unfall, der alles verändert hatte. „So gefällst du mir schon viel besser.“, meinte Biggi zufrieden. So begaben sie sich beide in die Küche, wo sich Barbara an den Tisch setzte, während Biggi alles vorbereitete. Diesmal achtete sie darauf, dass aus Barbaras Brötchen auch ein wunderschöner Smilie aus Himbeermarmelade strahlte. Die beiden genossen ein gemütliches Frühstück.
Währenddessen war die Schicht bei Thomas, Michael und Peter voll angelaufen. Sie hatten im Gegensatz zu den letzten Tagen eine Menge zu tun und waren fast immer auf Achse bei irgendwelchen Einsätzen. Zwischendurch nahmen sie sich die Zeit und füllten Berichte aus. Thomas war froh über den stressigen Arbeitstag. Das lenkte ihn wunderbar von seiner Sehnsucht nach Biggi ab, da er sich vollkommen auf seine Arbeit konzentrieren musste. An anderen Tagen, wenn Biggi hier wäre, hätte er sich geärgert, da mit Kuscheln nicht viel los gewesen wäre. Aber so war alles anders. Als die drei am späten Nachmittag durch Gabi, Ralf und Rene abgelöst wurden, fielen sie erstmal erschöpft ins Sofa. „Na, war’s anstrengend? Ihr seht ja ganz schön fertig aus.“, kommentierte Ralf, als er sie so schlapp dasitzen sah. „Glaub mir, wir sind es auch. Die ganze Schicht lang fast nur Einsätze. Ihr könnt euch schon mal freuen.“, meinte Michael und gähnte. „Na wer weiß, vielleicht sind für uns keine Unfälle mehr übrig und wir können uns die ganze Zeit ausruhen.“, grinste Gabi. „Na da freut euch mal nicht zu früh.“, knurrte Peter. Als sie sich etwa eine halbe Stunde ausgeruht hatten, kämpften sich Peter, Michael und Thomas mühsam hoch und begaben sich in den Umkleideraum. Dort genehmigten sie sich erstmal eine ausgiebige, heiße Dusche. Anschließend fühlten sie sich gleich viel besser. Für eine Stunde setzten sie sich noch zu Gabi und Ralf in den Aufenthaltsraum, um ihnen Gesellschaft zu leisten, gegen Abend aber brachen sie auf nachhause. Als Michael und Thomas bei der Villa ankamen, setzten sie sich erst noch gemeinsam in die Küche, um mit den Kindern zu Abend zu essen. Anschließend sah Thomas mit Lisa und Laura deren Lieblingssendung an, wieder eine Ablenkung, die ihm gerade recht kam. Als Lisa und Laura gegen neun jedoch in ihre Betten verschwanden, blieb Thomas allein im Wohnzimmer zurück. Noch zwei Stunden, dann erst könnte er Biggi anrufen. Er fragte sich insgeheim, wie er diese Zeit überbrücken sollte. Schließlich zog er ein Foto von ihr aus der Tasche und versank für den Rest des Abends in Biggis Anblick und den Gedanken darüber, wie die Zukunft für ihre Liebe wohl aussehen würde. Optimistische Gedanken hatten keinen Platz in seinem Kopf.
Ebenso ging es auch Biggi. Diese hatte den Tag damit verbracht, die letzten Dinge für die morgige Beerdigung ihrer Eltern vorzubereiten und für Barbara da zu sein. Dieser ging es an diesem Tag zwar schon sichtlich besser, doch Biggi wusste, dass auf sie beide noch viele Hürden zukommen würden, bis sie wieder ein normales Leben führen könnten.
Barbara ging an diesem Tag schon früher zu Bett. Sie hatte nach den Alpträumen in den letzten Tagen nicht viel Schlaf bekommen und kroch um zehn Uhr abends erschöpft ins Bett. Biggi blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war. Dann begab sie sich müde ins Wohnzimmer, wo sie sich auf dem Sofa niederließ und sofort zum Telefon griff. Mit einem Lächeln im Gesicht wählte sie Thomas’ Nummer, die ja eigentlich auch ihre Nummer war. „Wächter?“, meldete sich Thomas sogleich erwartungsvoll. „Ich bin’s. Hallo, mein Schatz.“, begrüßte Biggi ihn. „Oh, wie schön dich zu hören.“, freute sich Thomas. „Ich hab dich so vermisst.“, fügte er hinzu. „Ich dich ja auch. Ständig.“, meinte Biggi. „Wie war dein Tag?“, fragte sie ihn. „Er war stressig, aber darüber war ich froh. Wir hatten einen Einsatz nach dem anderen.“ „Oh nein, mein armer Schatz.“, bemitleidete sie ihn. „Ach, wieso? Das war gut, so hab ich es wenigstens besser ohne dich ausgehalten.“ Biggi seufzte, die ganze Situation war für alle Beteiligten einfach nur schlimm. „Wenigstens sehen wir uns morgen Abend wieder, wenn auch nur kurz.“, meinte sie total traurig. Thomas konnte ihr da nur zustimmen, doch eine Sache machte ihm Angst. Jetzt wusste er, wann er Biggi das nächste Mal wieder sehen würde, aber dann? Nach dem, was Biggi ihm erzählt hatte, würde Barbara noch sehr lange ihre Unterstützung brauchen, und so wie es aussah gab es wohl wirklich keine andere Möglichkeit, als dass Biggi nach Wien ging. Zwar wollten Thomas und Biggi diesen Gedanken beide nicht wahr haben, doch sie mussten ihn sich mehr und mehr eingestehen.
„Wie lange kannst du denn morgen bleiben?“, fragte Thomas dann hoffnungsvoll. „Ich weiß nicht. Ich sollte so schnell wie möglich zurück. Du weißt ja, Barbara.“ „Ja, natürlich. Ich weiß.“, gab Thomas ihr traurig Recht. Um sich abzulenken, fragte er schließlich: „Und, wie war dein Tag heute?“ „Ach, es ging so. Viel vorzubereiten für die Beerdigung. Ich bin so froh, wenn das mal um ist. Dann beginnt für uns erstmal ein ganz neuer Lebensabschnitt.“, seufzte Biggi. „Ja. Ein neuer. Ohne mich.“, sprach Thomas das aus, was ihm immer schon im Kopf vorgeschwebt war. Biggi wusste nicht, was sie sagen sollte. „Für mich wird es nie ein Leben ohne dich geben.“, sagte sie dann entschlossen. „Ja, du hast ja Recht. Mir geht es ja genauso. Aber wenn ich daran denke, was noch alles auf uns zukommt.“ „Ich weiß.“, flüsterte Biggi, den Tränen nahe. „Ich freue mich so unendlich auf morgen, Thomas.“ „Und ich mich erst. Wann kann ich mit dir rechnen?“ „Ich werde wohl die Maschine um vier nehmen. Dann bin ich um fünf Uhr in Salzburg. Holst du mich ab?“ „Ja, natürlich. Für jede Minute mehr mit dir würde ich alles geben.“ Biggi musste lächeln. „Danke. Dann sehen wir uns also morgen kurz nach fünf.“ „Ja, ich freue mich schon total.“, meinte Thomas und seine Augen kamen ins Strahlen. „Gute Nacht, mein Schatz.“, sagte er dann lieb. „Gute Nacht.“ „Und träum was Schönes. Am besten von mir.“ „Was soll ich denn da träumen?“, fragte Biggi. „Na zum Beispiel vom nächsten Wochenende, das wir gemeinsam verbringen werden und das nur uns gehört.“, schlug Thomas vor. „Das wird zwar noch lange hin sein, aber der Traum darüber ist bestimmt wunderschön.“, seufzte Biggi. „Also dann. Bis morgen, Liebling.“, verabschiedete sie sich schließlich wehmütig. „Bis morgen.“ Thomas schickte ihr noch einen Kuss durch die Leitung, und schließlich legten sie wieder mal auf. Beide mit einem traurigen, schweren Seufzen. Kurz nachdem Biggi den Hörer wieder abgelegt hatte, stand sie auf, machte alle Lichter aus und trottete ins Schlafzimmer. Bevor sie sich ins Bett niederließ, nahm sie noch eine schöne, heiße Dusche und kuschelte sich dann unter die Decke.
Thomas machte es ähnlich. Nachdem er sich eine Viertelstunde lang mit dem Duschgel eingeseift hatte, das Biggi ihm vor kurzer Zeit geschenkt hatte, ließ er sich das heiße Wasser über den Körper plätschern und machte sich dann ebenso auf ins Bett. Wie auch letzte Nacht fiel er mit all seinen Gedanken bei Biggi in einen leichten Schlaf.
Der nächste Tag wurde ein besonders harter für die junge Pilotin. Wenn nicht der härteste, den sie je in ihrem Leben hatte durchstehen müssen. Keine einzige Minute verging, in der sie nicht weinte, während der Priester seine Grabrede hielt. Barbara klammerte sich schluchzend an ihr fest, während Biggi die ganze Zeit den Arm um sie gelegte hatte und sich mit dem anderen die Tränen vom Gesicht wischte. Doch es half nichts. „Erde zu Erde, Asche zu Asche.“, predigte der Priester und Biggi hätte ihn sonst wohin gewünscht. „Bitte lass das doch alles mal vorbei sein.“, flehte sie tonlos. Sie streichelte Barbara beruhigend, was jedoch kein bisschen half, da sie selbst eine Beruhigung nötig gehabt hätte. Zwei Stunden standen sie dort am Friedhof und sahen mit an, wie ihre Eltern zu Grabe getragen wurden. Am frühen Nachmittag schließlich war alles vorbei. Eine Menge Leute leistete noch Beileidsbezeugungen, dann war auch das vorüber. Biggi und Barbara nahmen sich ein Taxi und fuhren zurück in den achten Bezirk. In der Wohnung angekommen, setzten sie sich erstmal kurz auf das Sofa. Dort ließen sie allen Gefühlen freien Lauf, die während der Beerdigung noch nicht die Möglichkeit dazu gehabt hatten. Sie hielten sich im Arm und weinten einfach nur. Das tat gut. Sie spürten, wie sehr ihnen die Anwesenheit des anderen half und besonders Biggi bemerkte, wie sich ihr Verhältnis zu Barbara in der kurzen Zeit seit ihrer Ankunft intensiviert hatte. Sie war froh darüber. Doch wenn sie an Thomas dachte und daran, wie sehr sie in der nächsten Zeit durch die Sehnsucht nach ihm noch würde leiden müssen, verging ihr jeder hoffnungsvolle Gedanke. Um drei Uhr blickte sie schließlich erschrocken auf die Uhr und raste daraufhin ins Schlafzimmer, um die nötigsten Dinge zusammenzusuchen. Viel brauchte sie ja nicht. Geld, Ausweis, ihre Handtasche. Übernachten würde sie ja leider nicht bei Thomas. Als sie sich im Flur ihre Jacke griff und Richtung Wohnungstür eilte, hielt Barbara sie auf. „Biggi?“ „Ja?“ „Wie lange bleibst du weg?“ „Ich bin heute Abend wieder da, bestimmt.“ „Biggi?“ Biggi neigte sich zu Barbara runter und umarmte sie. „Was ist denn?“ „Bleibst du bei mir? Ich meine, für immer?“ Biggi schluckte. „Möchtest du das denn?“, fragte sie sie leise und fürchtete bereits die Antwort. Barbara nickte entschieden. „Ja. Ich brauche dich. Ohne dich hätte mein ganzes Leben keinen Sinn mehr. Jetzt, wo Mama und Papa schon nicht mehr da sind.“ „Dann bleibe ich hier.“, sagte Biggi leise. Auf diese Aussage machte sie auf der Stelle kehrt und eilte zur Tür. „Bis nachher.“, hörte Barbara sie noch sagen, als sie schon nicht mehr zu sehen war. Draußen sank Biggi am Treppenabsatz in sich zusammen und weinte erstmal herzzerreißend. Nicht nur, dass sie ihre beiden Eltern verloren hatte. Nein, jetzt würde sie auch noch die Liebe ihres Lebens verlieren. Den Mann, der für sie alles auf der Welt bedeutete. Sie konnte es nicht fassen. Natürlich, sie hatte es immer schon geahnt, aber jetzt stand es fest. Sie würde die nächsten Jahre ihres Lebens in Wien verbringen und ihre große Liebe würde sie hunderte Kilometer weit weg, in Traunstein, verbringen. Mit seiner Familie. Und sie mit ihrer Familie. Aber eine gemeinsame Familie, nein, das war nicht mehr vorstellbar. Zumindest nicht für die nächsten paar Jahre.
Die nächsten beiden Stunden nahm Biggi gar nicht mehr wahr. Erst, als sie um kurz nach fünf in der Eingangshalle des Flughafens stand, wurde sie etwas wacher. Und als sie Thomas plötzlich wenige Meter vor sich sah, hatte sie das Gefühl, alle Endorphine in ihrem Körper würden sich innerhalb einer Sekunde ausschütten. Sie stürmte auf ihn zu und ließ sich in seine offenen Arme sinken wie ein kleines Kind, das seine Mutter wieder gefunden hatte. Sie küssten sich innig, bis Thomas bemerkte, dass Biggi dabei Tränen übers Gesicht liefen. „Aber Biggi, was ist denn los?“, fragte er total besorgt. „War die Beerdigung so schlimm?“, schnitt er vorsichtig das Thema an. „Nein, nicht diese Beerdigung.“, schluchzte Biggi leise und schmiegte sich an seine Brust. Thomas verstand nicht, was sie meinte. „Welche denn dann?“ „Ich … ich …“ Biggi konnte nicht weiter sprechen. Das war alles ein wenig zuviel für sie. „Na komm, jetzt fahren wir erstmal nachhause, hm? Dann kannst du mir alles erzählen.“, meinte Thomas lieb und strich ihr zärtlich über die Wange. Biggi nickte nur, und so verließen sie Arm in Arm das Flughafengebäude. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt erreichten sie die gemeinsame Villa. Dort hatte Michael den beiden in der Küche einen wundervollen Kaffeetisch gedeckt, mit verschiedensten Keksen, Törtchen und anderen Naschereien. Er selbst war noch mal zur Basis gefahren. Einerseits, um den beiden ein wenig Zeit alleine zu gönnen, und andererseits, weil er ohnehin auf der Basis noch einiges zu arbeiten hatte. Erschöpft ließen Thomas und Biggi sich dort nieder. Sobald Thomas sich hingesetzt hatte, kuschelte Biggi sich an ihn. „Ich … ich muss dir was sagen.“, fing sie schließlich leise an. „Na was denn? So schlimm wird es doch nicht sein, oder?“, fragte Thomas lieb. „Doch. Es ist schlimm…“, sagte Biggi darauf nur. Thomas nahm einen Keks und fütterte Biggi damit. Normalerweise hätte Biggi das gefallen, doch diesmal konnte kein Keks der Welt ihre Stimmung wieder erheitern. Abermals brach sie in Tränen aus, sie hielt diese ganze Situation einfach nicht mehr aus. Sie riss sich von Thomas los und stürzte sich weinend aus der Küche. Dann rannte sie die Treppen nach oben und ließ sich oben im Schlafzimmer aufs Bett fallen. Thomas wusste nicht ein noch aus. Seine Sorge um Biggi war grenzenlos, er stand auf und eilte ihr nach. Im Schlafzimmer ließ er sich ganz langsam neben Biggi aufs Bett sinken. Sie hatte ihr Gesicht in die Decke vergraben und schluchzte. Ihr ganzer Körper bebte unter der Verzweiflung. Schließlich legte Thomas sich neben sie und streichelte mit der Hand liebevoll ihren Rücken. „Was ist denn los? Sag’s mir doch, bitte.“, flehte er Biggi an, inzwischen selbst der Verzweiflung nahe. „Ich werde mich … ich muss mich…“, begann Biggi, ohne ihn dabei anzusehen. „Was musst du?“ Schließlich hob Biggi ihren Kopf und blickte ihn an. „Mich von dir trennen. Ich … ich werde in Wien bleiben. Ich … muss in Wien bleiben.“ Einige Sekunden lang sagten beide nichts. Dann fielen sie sich in die Arme. Einer verzweifelter als der andere. Fast eine halbe Stunde blieben sie so liegen. Niemand sagte etwas, es bedurfte keiner Worte. Jeder wusste, was der andere dachte, doch niemand wollte es aussprechen. Ein letztes Mal knöpfte Biggi langsam Thomas’ Hemd auf. Ein letztes Mal glitten Thomas’ Hände unter Biggis Bluse und streichelten sie zärtlich. Ein letztes Mal ließen sie ihren Gefühlen freien Lauf. Es war das intensivste Mal, dass sie sich liebten. Aber das letzte Mal. Als sie anschließend Arm in Arm aneinander lagen, sagte niemand etwas. Ein „Ich liebe dich.“ hätte in diesem Moment alle Gefühle wieder hervorquellen lassen und alles noch viel schlimmer gemacht. Gegen acht Uhr zogen sie sich wortlos um. Schweigend packte Biggi ihre Sachen zusammen, räumte den Schrank aus. Bis auf ein einziges Shirt, das sie ganz hinten in der Ecke liegen ließ. Sie wusste nicht, warum sie es tat. Sie tat es einfach. Nach einer Stunde war sie damit fertig. Schließlich fuhr sie gemeinsam mit Thomas zur Basis. Seit sie ihre Liebe zueinander das letzte Mal ausgelebt hatten, hatte niemand mehr ein einziges Wort gesprochen. An der Basis musste Biggi es erstmal den anderen beibringen, dass sie in Zukunft in Wien bleiben würde. Sie waren alle miteinander schockiert. „Um die Formalitäten werde ich mich telefonisch kümmern. Ich … ich kann das alles hier … erstmal nicht mehr sehen.“, schluchzte sie, als sie Gabi umarmte und sich von ihr verabschiedete. „Besuch uns bald, ja? Und wir werden dich besuchen, ganz oft.“, meinte Gabi, die sich selbst kaum halten konnte vor weinen. Auch Michael, Ralf und Peter waren die Tränen gekommen. Biggi nahm jeden von ihnen noch mal ausgiebig in den Arm. „Irgendwann ist das alles vorbei und ich komme zurück. Ganz bestimmt.“, sagte sie, während ihr eine Träne nach der anderen vom Gesicht lief. Thomas stand die ganze Zeit daneben und sah zu. Schließlich hatte Biggi sich auch von Max und Ebelsieder verabschiedet und die Freunde begleiteten sie noch mit nach draußen. „Ich werde euch so vermissen!!“, rief Biggi ihnen noch mal zu, als sie schließlich ins Auto stieg und die Tür zumachte. Wortlos machte Thomas den Motor an und fuhr davon, während Biggi ihren Freunden tränenüberströmt nachwinkte. Eine halbe Stunde dauerte die Fahrt zum Flughafen. Dort nahm Thomas Biggis Taschen aus dem Kofferraum und hievte sie auf die Gepäcksschiene im Abflugbereich. Schließlich war der Zeitpunkt des Abschieds gekommen. Biggis Flug wurde aufgerufen. Sie sahen sich noch einmal in die Augen und versanken wenige Sekunden später in einem leidenschaftlichen Kuss. Minutenlang standen sie dort mitten in der Abflughalle, hielten einander fest. Als sie wieder voneinander abließen, flossen auch Thomas die Tränen in Strömen vom Gesicht. „Ich … ich wollte dich heiraten.“, flüsterte er und griff nach Biggis Hand. „Ich hätte ja gesagt…“, meinte Biggi darauf und versank in seinen Augen. „Vielleicht …“ „… Irgendwann.“, vollendete er ihren Satz. Dann nickten beide. „Ich werde auf dich warten. Bis ich sterbe, wenn du willst.“, sagte er und wischte sich die Tränen vom Gesicht, was allerdings nicht viel half. Biggi nickte. „Und ich werde dich lieben. Bis ich sterbe.“ „Ich dich auch.“ Es folgte ein weiterer Kuss voller Hingabe und Leidenschaft. „Letzter Aufruf für Flug 1867 nach Wien. Alle Passagiere bitte einsteigen!!“, dröhnte es aus der Lautsprechanlage. Biggi und Thomas zuckten zusammen, sie wussten, dass nun der Zeitpunkt des endgültigen Abschieds gekommen war – eines Abschieds ohne Gewährung eines Wiedersehens, zumindest nicht in der nächsten Zeit. „Und was ist, wenn ich doch mitkomme nach Wien?“, fragte Thomas dann, er konnte das einfach alles nicht glauben, es musste doch eine Chance für ihre Liebe geben, irgendeine. Doch Biggi schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass das nicht geht. Ich würde alles dafür geben, damit es nicht so wäre. Aber du wirst nun einmal hier gebraucht.“, es fiel ihr unheimlich schwer diese Worte auszusprechen. Sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte als so zu handeln und nach Wien zu gehen, doch tief in ihrem Herzen spürte sie, dass es falsch war. „Manchmal heißt jemanden lieben auch loslassen.“, fügte sie dann traurig hinzu. „Ich kann das einfach nicht glauben.“, meinte Thomas total verzweifelt. Biggi war ebenso verzweifelt. „Ich wollte mit dir alt werden, Kinder haben, für immer zusammen sein… und nun?“ Biggi nickte unter Tränen. „Ich weiß, ich doch auch. Die Zeit mit dir war die schönste meines Lebens und ich würde nichts auf der ganzen Welt lieber tun, als einfach nur hier bleiben, mit dir zusammen sein… und dich heiraten.“ Immer mehr Tränen rannen bei diesen Worten über ihr Gesicht. Thomas drückte sie noch einmal ganz fest an sich. Er wollte sie festhalten, sie aufhalten, doch er wusste, dass er es nicht konnte. Ein letztes Mal blickten sie sich in die tränengefüllten Augen und küssten sich dann besonders lange und innig. Als sie sich ihre Lippen langsam voneinander lösten, meinte Thomas leise: „Pass auf dich auf.“ Dann drückte er Biggi etwas in die Hand. Ihren Bären, den sie immer als Glücksbringer im Helicopter sitzen gehabt hatte. „Danke…“, flüsterte sie und drückte den Bären fest an sich. Dann drehte sie sich abrupt um und eilte zum Schalter. Sie wollte den Abschied nicht noch schlimmer machen als er ohnehin schon war. Es war der schlimmste Abschied ihres Lebens, der Abschied von dem wichtigsten Mensch in ihrem Leben – von Thomas. Dieser blickte ihr mit tränengefüllten Augen nach. Er konnte das alles noch immer nicht fassen. Doch er musste es hinnehmen. Nur wenige Minuten später sah er Biggis Flugzeug abfliegen. Seine Augen verfolgten es solange, bis am Himmel nur mehr ein ganz kleiner Fleck und schließlich gar nichts mehr zu erkennen war. Doch er selbst bewegte sich nicht von der Stelle. Er hatte nicht die Kraft dazu, seine Gedanken waren bei Biggi, nur bei Biggi. Irgendwann einige Stunden später kam eine Angestellte des Flughafenpersonals auf ihn zu und fragte, ob mit ihm etwas nicht in Ordnung sei. Sie riss Thomas aus seiner Trance. Erschrocken blickte er sie an, schüttelte den Kopf und drehte sich um. Ganz langsam verließ er dann das Flughafengelände. Draußen stieg er in sein Auto und fuhr nachhause. Dort wurde er von einem besorgten Michael empfangen. „Wo hast du nur so lange gesteckt, Mann? Ich hab mir Sorgen gemacht. Du wolltest Biggi doch nur zum Flughafen bringen.“ „Da war ich ja auch. Am Flughafen. Darf ich jetzt bitte vorbei?“, fragte Thomas seinen Freund genervt. Michael nickte. Er konnte sich vorstellen, dass Thomas nach diesem Abschied von Biggi verzweifelt war. Doch er konnte nicht annähernd den Schmerz nachfühlen, den Thomas in seinem Herzen verspürte.
Denselben Schmerz, der zur gleichen Zeit auch Biggi das Leben unerträglich machte. Nachdem sie am Flughafen Wien-Schwechat angekommen war, hatte sie sich so schnell wie möglich in ein Taxi gesetzt und war zu Barbara gefahren. In ihr neues Zuhause. Ihr einziges Zuhause. Während der Fahrt mit dem Taxi blickte sie aus dem Fenster und sah sich ihre neue Heimatstadt an. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass man nur dort zuhause sei, wo auch das Herz wohne. Dann war das hier sozusagen ihr Zweitwohnsitz. Aber ihr eigentliches Zuhause, das war in Traunstein. In der Villa. Bei Thomas. Thomas. Diesen Namen musste sie jetzt erstmal vergessen. Sie gab sich alle Mühe, die Gedanken von dem Piloten abzuwenden, dessen letzte Worte immer und immer wieder in ihrem Gedächtnis widerhallten. Doch es klappte nicht. Auch als sie vor der Wohnungstür ihrer Eltern – nein, vor ihrer eigenen Wohnungstür – stand, hörte sie Thomas immer noch sagen, dass er auf sie warten werde. Dass er mit ihr Kinder haben wollte. Dass er sie liebte.
Warum hatte alles nur so weit kommen müssen? Sie war doch so glücklich, nie in ihrem Leben war sie so glücklich gewesen, wie in der Zeit, in der sie mit Thomas zusammen gewesen war, in der Zeit, die jetzt vorüber war. Sie konnte es einfach noch nicht richtig glauben. Doch sie wusste, dass sie sich damit abfinden musste, sie hatte keine andere Wahl. Ihr neues Leben spielte sich hier ab, in Wien. Sie würde sich einen neuen Job suchen müssen, am besten nur halbtags, damit sie ganz für Barbara da sein konnte und vor allem musste sie eins – ihr altes Leben hinter sich lassen. Wenn es doch nur nicht so verdammt schwer wäre…. Sie war so glücklich gewesen in Traunstein und nun plötzlich war das alles Vergangenheit. Bei dem Gedanken daran stiegen ihr wieder Tränen in die Augen, doch sie versuchte sie zurückzuhalten und schloss dann langsam die Tür auf. Barbara kam ihr schon entgegen, sie hatte schon auf Biggi gewartet. Am Nachmittag war eine Freundin von ihr zu Besuch gewesen, doch da sie wusste, dass Biggi gegen Abend wieder zurück sein würde, war sie nun wieder allein in der Wohnung. „Ich hab schon auf dich gewartet.“, begrüßte Biggi ihre große Schwester und half ihr dann, ihre Sachen in die Wohnung zu bringen. „Ich bin froh, dass du wieder da bist.“, fügte sie dann hinzu. Biggi nickte nur schweigend. Sie fühlte sich in ihrer Entscheidung bestätigt, es war die einzige Möglichkeit gewesen, Barbara brauchte sie jetzt. Immer wieder versuchte sie, sich diesen Satz einzuhämmern, in der Hoffnung, dass der unbeschreibliche Schmerz über die Trennung von Thomas so ein wenig kleiner wurde. Doch vergeblich, der Schmerz saß tief und wurde nicht um den minimalsten Teil verringert.
Thomas hatte sich sofort im Schlafzimmer verschanzt. In seinem und Biggis Schlafzimmer. Doch Biggi war nicht hier und vielleicht würde sie es nie wieder sein…. Sein Blick fiel auf ein Foto auf seinem Nachttisch. Es zeigte Biggi, seine Biggi. Es war immer sein Lieblingsfoto von ihr gewesen. Langsam nahm er es in die Hand und setzte sich aufs Bett. Während er das Foto betrachtete, stiegen ihm wieder Tränen in die Augen. Biggi hatte ihn verlassen, vielleicht für immer. Er verstand die Welt nicht mehr. Er liebte sie doch und sie liebte ihn. Warum war die Welt so ungerecht und ließ es zu, dass zwei Menschen, die sich über alles liebten, nicht zusammen sein konnten?
Michael ließ seinen Freund den ganzen Abend über in Ruhe und bat auch Lisa und Laura, als sie nach einiger Zeit von einer Freundin nachhause kamen, ihn nicht zu stören. Die beiden nickten verständnisvoll. Schon in den letzten Tagen, in denen Biggi in Wien war, hatten sie immer wieder bemerkt, wie sehr Thomas sie vermisste und dass er total traurig war.
Die nächsten Wochen vergingen, doch Thomas’ Laune besserte sich nicht um das Geringste. Er war froh, wenn er Dienst hatte und so ein bisschen von seiner Sehnsucht nach Biggi abgelenkt wurde. Sie hatten nicht ein einziges Mal mehr miteinander telefoniert, da sie beide der Ansicht waren, dass es besser so war und es sonst alles nur noch schlimmer machen würde. Sie vermissten einander so schon wahnsinnig, obgleich sie wussten, dass sie einen Schlussstrich ziehen mussten. Doch auch wenn sie es schafften, nicht miteinander zu telefonieren und sich nicht zu schreiben, den anderen aus den Gedanken zu verbannen, das war unmöglich.
Auch Biggi ging es so, sie vermisste ihn so wahnsinnig, ebenso wie ihre Freunde und ihren Job. Einfach ihr altes Leben. Mit der aktuellen Situation war sie mehr als unzufrieden. In Wien kannte sie niemanden – außer Barbara, doch am schlimmsten war die Trennung von Thomas. Die meisten Abende verbrachte sie damit, sein Foto zu betrachten und in Erinnerungen zu schwelgen. Barbara merkte von Tag zu Tag mehr, wie sehr ihre Schwester unter der Trennung von Thomas und darunter, dass sie nach Wien gezogen war, litt. Das wollte sie natürlich nicht, doch was sollte sie ohne Biggi machen? Nach dem Tod ihrer Eltern, war sie die einzige Verwandte für sie.
Ebenso wie Thomas genoss Biggi die Zeit, in der sie arbeitete, schon fast. Sie hatte einen Job in einem Transportunternehmen gefunden. Als Pilotin war es schwer in Wien einen Job zu finden, da es sehr viele Bewerber gab und sie zudem nur eine Teilzeitstelle gesucht hatte, die in diesem Job fast überhaupt nicht ausgeschrieben wurden. Doch wenn sie zuhause war, hielt sie es die meiste Zeit kaum mehr aus, in Wien herumzusitzen und nicht zuhause in Traunstein zu sein, bei Thomas. Zuhause… ja, Traunstein war noch immer ihr Zuhause und das würde sich wohl auch nie ändern. Nirgendwo fühlte sie sich so geborgen und so glücklich wie dort. Oftmals war sie kurz davor, einfach zum Flughafen zu fahren und den nächsten Flug zurück zu nehmen. Doch dann dachte sie auch immer wieder an Barbara, die sie unmöglich alleine lassen konnte. Zudem war sie sich gar nicht mehr sicher, ob Thomas überhaupt noch wollte, dass sie zurückkam. Immerhin hatte er sich kein einziges Mal mehr gemeldet. Sie zwar auch nicht, aber trotzdem wusste sie nicht, ob er sie vielleicht gar nicht mehr wieder sehen wollte. Nachdem, was sie ihm angetan hatte… Natürlich, sie hatte keine andere Wahl gehabt, aber sie hatte ihn verlassen. Er hatte sie heiraten wollen, mit ihr für immer zusammen leben wollen und sie? Natürlich hatte sie das auch gewollt, nichts lieber als das, doch sie hatte sich dagegen entschieden, sie hatte ihn verlassen, für Barbara. Immer wieder musste Biggi daran denken und es brachte sie jedes Mal wieder zur Verzweiflung.
Michael und die anderen auf der Basis konnten es kaum noch mit ansehen, wie sehr Thomas unter der Trennung von Biggi litt, er war wie ausgewechselt, seit dem Tag, an dem sie nach Wien geflogen war. Normalerweise hatte er fast immer gute Laune gehabt und die anderen mit seinen Sprüchen zum Lachen gebracht. Doch all das gehörte der Vergangenheit an. Wenn keine Einsätze kamen, saß er die meiste Zeit am Fluss, an seinem und Biggis Lieblingsplatz und dachte an vergangene Zeiten zurück, an die Zeiten mit Biggi. Mit ihr schien auch seine ganze Lebensfreude gegangen zu sein. Seine Freunde und auch Lisa und Laura versuchten alles, um ihn irgendwie auf andere Gedanken zu bringen, doch vergeblich. Es grenzte schon beinahe an ein Weltwunder, wenn man ihn lachen sah und selbst wenn, dann nur für einen kurzen Augenblick, bis ihn die Sehnsucht nach seiner Biggi wieder einholte.
Eines Abends, sie saß gerade allein im Wohnzimmer, da Barbara bei einer Freundin übernachtete, klingelte Biggis Telefon. Sie fragte sich, wer das sein könnte, dachte jedoch nicht weiter darüber nach, sondern hob ab. „Schwerin?“ „Hallo Biggi!“, vernahm sie eine Kinderstimme am anderen Ende. „Lisa???“, fragte die Pilotin ungläubig. „Ja, ich bin’s“ „Ist etwas passiert?“, fragte Biggi sofort besorgt nach. Alleine bei dem Gedanken daran, dass Thomas etwas zugestoßen sein könnte, wurde ihr schlecht. „Nein…aber…Laura und ich…..wir vermissen dich und Papa vermisst dich auch. Er ist die ganze Zeit so traurig, seit du weg bist.“ Biggi schluckte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Ich vermisse euch auch und ich denke jeden Tag an euch.“, meinte sie dann leise, wobei ihr die Tränen hochstiegen. „Warum kommst du dann nicht zurück? Papa braucht dich, er ist so allein ohne dich und jeden Abend sitzt er alleine im Schlafzimmer und sieht sich die ganze Zeit dein Foto an.“ Biggi hörte sich alles schweigend an. Es versetzte ihr einen gewaltigen Stich ins Herz, zu hören, dass Thomas genauso sehr unter der Trennung litt wie sie. Nachdem sie sich von Lisa und Laura verabschiedet hatte, ließ sie sich erstmal aufs Sofa sinken und dachte nach. Thomas vermisste sie, genauso wie sie ihn. Es ging ihm schlecht und sie war nicht bei ihm. Wie auch, wäre sie in seiner Gegenwart gewesen, ginge es ihm nicht schlecht. Sie war schuld. Und plötzlich fasste sie einen Entschluss. Sie hätte diesen Entschluss schon fiel früher fassen sollen, doch das Telefonat mit Lisa hatte ihr die Augen endgültig geöffnet. Sie schrieb Barbara einen Zettel, suchte schnell ihre wichtigsten Sachen zusammen und verstaute sie in ihrem kleinen Lederrucksack, dann verließ sie eilig die Wohnung.
Thomas war an diesem Abend allein in der Villa, Lisa und Laura schliefen schon lange und Dirk und Michael waren gemeinsam im Kino. Es war ein lauer Sommerabend und der Pilot hatte sich auf die Terrasse der Villa gesetzt. Vor einigen Wochen noch hatte er hier immer mit Biggi zusammen gesessen und den Sonnenuntergang beobachtet. Nun betrachtete er die rot glühende Sonne allein – und wieder dachte er an seine Biggi, die nun kilometerweit entfernt in Wien war. Langsam griff er nach der Schachtel Zigaretten, die auf dem Tisch lag. Er hatte vor Jahren einmal geraucht, es aber schon lange wieder aufgegeben. Doch seit Biggi weg war hatte er wieder damit angefangen und alle Hinweise von Michael auf die Gesundheitsschädlichkeit ignoriert. Er brauchte das jetzt einfach. Ein leichter Wind wehte durch sein Haar und er merkte, dass es sich langsam abkühlte. Bald würde die Dunkelheit ihre volle Wirkung zeigen. Alles war ruhig, das einzige Geräusch, das zu hören war, war das leise Zirpen der Grillen. In solchen Momenten merkte Thomas immer besonders, wie einsam er doch war, seit Biggi weg war. Er vermisste sie so. Anstatt dass es mit der Zeit besser wurde, wurde es von Tag zu Tag schlimmer und er hielt es kaum noch aus. Was hätte er jetzt alles dafür gegeben, hier mit ihr im Arm auf der Terrasse zu sitzen und den Sommerabend zu genießen.
Plötzlich jedoch riss ihn ein Geräusch aus den Gedanken. Es dauerte einzige Sekunden, bis er realisierte, dass es gerade an der Haustür geklingelt hatte. War Michael schon zurück? Aber er hatte doch einen Schlüssel? Wer konnte das nur sein, um diese Uhrzeit noch? Thomas drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und stand dann langsam auf, um nachzusehen. Langsam ging er nach drinnen, durch den Flur und zur Haustür. Dann öffnete er sie langsam, nicht ahnend, wer ihn dort erwartete.
Biggi stand vor der Haustür der Villa. Sie hoffte so sehr, dass jemand zuhause war. Nein, dass Thomas zuhause war. Zwar brannte in der Küche Licht, doch sie hatte nun schon zweimal geklingelt, ohne dass jemand geöffnet hatte. Sie konnte es kaum mehr abwarten. Viel zu lange hatte sie schon gewartet und sie fragte sich inzwischen, wie sie Thomas hatte damals verlassen können. Es war der größte Fehler ihres Lebens gewesen, ohne den sie Thomas und sich selbst viel Leid erspart hätte. Doch nun war es nicht mehr rückgängig zu machen. Biggi hoffte, dass sie alles irgendwie wieder gutmachen konnte. Sie wollte nicht mehr ohne Thomas leben, nie wieder. Die letzten Wochen waren die schrecklichsten Wochen ihres Lebens gewesen und sie wollte nur noch eins: Wieder mit ihm zusammen sein, koste es, was es wolle. Sie war total nervös und ihre Knie begannen zu zittern, als sich endlich langsam die Haustür öffnete.
„Biggi???“, Thomas starrte sie ungläubig an. Er konnte es nicht fassen. Hätte er irgendetwas in der Hand gehabt, hätte er es wahrscheinlich auf der Stelle fallen lassen. Biggi stand vor ihm, seine Biggi, die er in den letzten Wochen so schrecklich vermisst hatte. „Hallo Thomas“, brachte sie nur leise hervor. Sie wusste nicht, was sie sagen konnte. Einen Moment lang sahen sie sich einfach nur in die Augen, dann fielen sie sich um den Hals. Minutenlang standen sie einfach nur da, hielten sich aneinander fest und wollten sich am liebsten nie wieder loslassen. Sie hatten sich so wahnsinnig vermisst, doch nun hatte sie einander endlich wieder. Sie konnten es beide noch gar nicht richtig glauben. „Oh Thomas, ich hab dich so vermisst.“, sagte Biggi leise und schmiegte sich noch mehr an ihn. „Und ich dich erst.“, flüsterte Thomas, während er sie noch fester in die Arme schloss. Dann sahen sie beide auf und sahen sich in die Augen. „Es tut mir alles so Leid.“, meinte Biggi leise. „Aber Biggi, dir braucht gar nichts Leid zu tun, du musstest nach Wien gehen.“, erwiderte Thomas. Biggi lächelte, sie war so froh wieder zuhause zu sein. Dann konnten sie sich keine weitere Sekunde mehr beherrschen und verfielen in einen langen, leidenschaftlichen Kuss. Sie standen mindestens zehn Minuten dort vor der Haustür, hielten einander einfach nur fest und küssten sich. Dann zog Thomas Biggi langsam mit nach drinnen Er war so unbeschreiblich glücklich, seine Biggi wieder im Arm halten zu können. „Wie kommt es überhaupt, dass du hier bist?“, wollte er denn schließlich wissen. „Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten vor Sehnsucht nach dir.“, gestand Biggi ihm, worauf Thomas sie glücklich küsste. „Bleibst du jetzt bei mir?“, fragte er sie dann, als sie wenig später gemeinsam auf der kleinen Bank auf der Terrasse saßen und Biggi sich in seine Arme gekuschelt hatte. Biggi sah ihm in die Augen, lächelte und nickte dann. „Ich werde dich nie wieder verlassen. Niemals.“, antwortete sie ihm, während sie ihm sanft mit der Hand übers Haar strich. „Das heißt, wenn du mich jetzt überhaupt noch willst…“, setzte sie dann hinzu. „Blöde Frage…“, meinte Thomas lächelnd und küsste sie zur Antwort zärtlich. „Aber was ist mit Barbara?“, fragte er dann vorsichtig nach. „Sie hat mir gestern erzählt, dass ihre beiden besten Freundinnen in eine WG gezogen sind, und ich hoffe, dass sie sich dort auch wohl fühlen würde. Sie hat selbst schon davon geschwärmt und ich habe ihr jetzt den Vorschlag gemacht, dort einzuziehen.“, erzählte sie ihm glücklich. Thomas strahlte. Er war so glücklich wie die ganzen letzten Wochen nicht mehr. Biggi ging es genauso. „Ich bin so froh wieder hier zu sein… bei dir.“, seufzte sie glücklich, während sie sich noch enger an Thomas kuschelte. Doch gerade, als sie sich küssen wollten, klingelte plötzlich Biggis Handy. „Oh nein.“, stöhnten sie beide auf. Biggi nahm es aus ihrer Tasche und ging ran. „Oh, hallo Barbara.“ – „Was? Wirklich? Das ist ja super“ – „Oh, das ist wirklich lieb, danke.“ – „Ja, mache ich. Tschüss.“ Biggi legte auf und steckte das Handy weg. Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Das war Barbara, sie findet die Idee mit der WG klasse, ich hatte ihr einen Zettel geschrieben. Und sie meinte, sie freut sich, dass ich wieder bei dir bin, weil sie auch schon bemerkt hat, dass ich in Wien unglücklich war.“ „Das ist ja klasse.“, Thomas konnte sein Glück kaum fassen und er und Biggi fielen sich überglücklich um den Hals. „Ich lasse dich nie wieder los.“, meinte Biggi leise und küsste ihn zärtlich. „Steht das Angebot noch?“, fragte sie dann lächelnd und sah ihm verliebt in die Augen. Thomas musste ebenfalls lächeln, er wusste sofort, was sie meinte. „Du meinst…“ Biggi nickte. „Also nun noch einmal ganz offiziell: Biggi, ich liebe dich über alles. Willst du meine Frau werden?“ „Ja… am liebsten sofort.“, gab Biggi ihm überglücklich zur Antwort, bevor sie in einem Meer von Küssen versanken.
Wenig später kamen Michael und Dirk nachhause. Nachdem er seinen Sohn sofort nach oben ins Bett geschickt hatte, wollte er sich noch ein wenig zu Thomas auf die Terrasse setzen. In der Tür blieb er jedoch erstaunt stehen. Er musste erkennen, dass Thomas nicht allein dort auf der Bank saß und den ruhigen Sommerabend genoss. Michael schmunzelte und beobachtete die beiden noch einige Augenblicke, wie sie dort eng aneinander gekuschelt saßen, sich immer wieder küssten und sagten, wie sie sie sich liebten und wie sehr sie sich vermisst hatten. Dann ging er schließlich leise, aber zufrieden lächelnd wieder rein, ohne dass sie es bemerkt hatten. Aber die beiden hätten es wohl nicht mal bemerkt, wenn hinter ihnen eine Bombe explodiert wäre. Viel zu sehr waren sie miteinander beschäftigt. Sie hatten viel nachzuholen. Und viel zu planen. „Was hältst du von so ungefähr fünf bis zehn Kindern in den nächsten Jahren?“ „Oh, sehr viel.“, stimmte Biggi zu und lächelte ihren Thomas überglücklich an. „Aber nur, wenn sie alle so werden wie du.“ „Ne, das geht nicht. Da würden sie dann ja alle so an ihrer Mutter hängen, dass du überhaupt keine Zeit mehr für mich hättest.“ Und Zeit, die brauchten sie auch, um all die Monate nachzuholen, die ihnen verloren gegangen waren…
Ein Jahr später sah alles bereits ganz anders aus. Es war ein ähnlich warmer Sommertag, das Thermometer auf der Terrasse vor der Villa war in die Höhe geschnellt und die Sonne lachte vom Himmel. Und in die Gesichter von Biggi und Thomas, die sich jeden Tag noch mehr liebten als zuvor, strahlten die wunderschönen, rehbraunen Augen eines kleinen Babys, das sich genussvoll in den Armen seiner Eltern wiegen ließ. Diese strahlten sich ebenso an, küssten sich darauf innig und wussten in diesem Moment, dass sie die glücklichsten Menschen auf der ganzen Erde waren.