Ich will nicht sterben. Nicht jetzt.
Jener Dienstag im warmen Sommermonat August sollte eine ganze Menge im Leben zweier Menschen verändern. Doch morgens ahnte davon noch niemand etwas. Tief und fest schliefen Biggi und Thomas in ihrem Bett in der Wächter/Schwerin/Lüdwitz’schen Villa. Thomas hatte seinen Arm noch immer fest um Biggi gelegt, nachdem sie am Abend zuvor aneinandergekuschelt eingeschlafen waren, so wie es seit mehreren Monaten jeden Abend war. Etwa eine Stunde später öffnete Thomas, geweckt durch die ersten Sonnenstrahlen um sieben, langsam die Augen. Mit einem Lächeln bemerkte er, dass sich seine Biggi immer noch im Land der Träume befand. Ganz vorsichtig versuchte er aufzustehen, ohne sie zu wecken. Dann zog er sich schnell etwas über und schlich leise aus dem Schlafzimmer. Biggi hatte von alldem nichts bemerkt. Etwa zwanzig Minuten später öffnete sich wieder die Tür und Thomas kam mit einem kleinen Tablett herein. Darauf lagen frische Frühstücksbrötchen, zwei Tassen Kaffee, seine und Biggis Lieblingsmarmelade und ein bereits bestrichenes Brötchen, auf dem mit Kirschmarmelade ein Herz gemalt war, in dessen Mitte ILD stand. Thomas hatte sich besonders Mühe dabei gegeben, die Buchstaben auch leserlich in das Herz zu malen. Er stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab und schlich dann um das Bett zu der Seite, wo Biggi lag. Er neigte sich runter zu ihr, streichelte ihr liebevoll über den Kopf und berührte dann ganz sanft ihre Lippen mit seinen. Dann begann er langsam, sie zu küssen und brauchte nicht lange zu warten, bis sein Kuss erwidert wurde. Biggi öffnete die Augen, lächelte und legte ihre Arme um ihn. Noch eine ganze Weile setzten sie ihren Morgenkuss innigst fort, bis sie langsam voneinander abließen und Thomas meinte: „Das Frühstück für die schönste Pilotin der Welt ist fertig. Guten Morgen, mein Schatz.“ „Guten Morgen. Wie lieb von dir …“, meinte Biggi und blickte gerührt auf das herzige Brötchen. Thomas nahm es und begann, sie damit zu füttern. Gemeinsam lehnten sie sich im Bett wieder zurück und kuschelten sich aneinander, während sie frühstückten. Als sie nach einiger Zeit satt waren, zogen sie sich die Bettdecke wieder über den Kopf und Thomas begann, Biggi zärtlich zu küssen und zu streicheln, während er sich langsam auf sie legte. „Thomas, wir haben keine Zeit.“, meinte Biggi, grinste aber dabei und knöpfte den Gürtel seines Morgenmantels auf. „Wir müssen uns ja nicht immer nach der blöden Uhr richten.“, meinte Thomas darauf und zog ihr langsam das Nachthemd vom Körper. „Die blöde Uhr sagt aber, dass wir um acht Uhr auf der Basis sein müssen. Zumindest du solltest da sein.“, sagte Biggi, während sie sich immer leidenschaftlicher mit Küssen verwöhnten. „Keine Basis ist so wichtig wie du.“, meinte Thomas darauf nur leise. Kurz bevor sie sich dann ineinander vereinten, wurde plötzlich die Schlafzimmertür aufgerissen. „Ihr seid ja immer noch im Bett! Habt ihr mal auf die Uhr gesehen? Viertel vor acht! Und wir haben um viertel nach acht ein Organtransplantat an der Marienklinik abzuholen, Thomas.“, riss Michael sie entsetzt aus ihrer Beschäftigung. „Oh nein.“, stöhnte Thomas auf. Den Organtransport hatte er vollkommen vergessen. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von seinem Liebling loszureißen. Der Job ging in diesem Fall vor, sie hatten schließlich Menschenleben zu retten und nicht Konservenbüchsen auszutragen. Also ließ er gequält von Biggi ab und kämpfte sich aus dem Bett, worauf sie ihm sogleich folgte. Im Schnelltempo rasten sie ins Bad, machten sich frisch, zogen sich was über und saßen zehn Minuten später auch schon bei Michael im Auto. „Na wer sagt’s denn.“, meinte dieser erleichtert und drückte aufs Gaspedal. Den Weg zur Basis schafften sie in knappen sieben Minuten. Thomas verabschiedete sich noch mit einem kurzen, zärtlichen Kuss bei Biggi und sauste dann Richtung Heli, in welchem es sich Peter und Michael bereits gemütlich gemacht hatten. Biggi winkte ihnen noch zu, während sie mit Karacho starteten und Richtung München flogen. Seufzend begab sich Biggi dann in die Basis, wo sie von Max im Aufenthaltsraum begrüßt wurde. „Dass das auch immer so ein Stress sein muss.“, meinte sie zu ihm. „Na ja, bevor ihr beiden zusammen wart, hat es mit der Pünktlichkeit noch nie Probleme gegeben.“, antwortete Max darauf, und er hatte ja Recht. Früher waren sie teilweise Stunden zu früh zu ihrer Schicht gekommen, um einander zu sehen, hatten jedoch nie den Grund dafür zugegeben. „Ja, du hast ja Recht.“, meine Biggi. „Aber trotzdem. Wir können so selten die Zeit in Ruhe genießen.“, meinte Biggi traurig. „Dann sieh dir bloß Gabi und Ralf an und du merkst wieder, wie gut es dir eigentlich geht.“ Dem musste Biggi zustimmen. Gabi und Ralf steckten zurzeit im absoluten Vollstress, da sie gerade ihre Hochzeit vorbereiteten. In wenigen Wochen würde es soweit sein, und sie hatten noch nicht mal alle Einladungen verschickt. Der Rest des Teams half ihnen natürlich so gut es ging, doch all die Entscheidungen und den Hauptteil der Organisation mussten sie immerhin trotzdem erledigen. Vor wenigen Tagen hatte Gabi es geschafft, ihre Mutter von der Hochzeit zu überzeugen und ihre Vorurteile gegenüber so genannten niedrigeren sozialen Schichten aufzugeben. Nun stand es aber an, einen geeigneten Ort für die Trauung zu finden, einen geeigneten Catering Service, eine wunderschöne Hochzeitstorte, die richtige Dekoration, Trauzeugen, einen Priester, und mehr und mehr und mehr. Kein Wunder also, dass Ralf und Gabi im Stress kaum mehr wieder zu erkennen waren.
Biggi und Max setzten sich aufs Sofa und tranken gemeinsam eine Tasse Kaffee. „Na, und wie läuft’s bei dir zurzeit mit Thomas?“, fragte Max nach einer Weile. „Ach Max, einfach himmlisch. Ich kann mich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein.“, seufzte Biggi schwärmend. „Na dann ist es ja gut.“, freute sich Max. „Hat auch ne Weile gedauert, bis ihr beiden Sturköpfe mal endlich zusammengekommen seid.“ „Tja, damit hatten ja nicht nur wir zu tun…“, meinte Biggi grinsend, und Max grinste zurück. Gerade als sie wieder einen Schluck aus ihrer Tasse nehmen wollten, fegte plötzlich Gabi durch die Tür: „Was, du hier?? Um diese Zeit???“, begrüßte Biggi sie erstaunt. „Ja, ich weiß, aber du müsstest mal meinen Stapel Papiere sehen, den ich noch liegen habe. Ich komme noch um in diesem Stress. Wer hat bitte Hochzeiten erfunden?“ Darauf hatte Biggi keine Antwort. Dafür bot sie ihr aber an, ihr bei den Berichten zu helfen. „Oh, das ist lieb von dir, aber ich fürchte du wirst mir kaum helfen können. Es sind fast nur medizinische Details und Diagnosen.“, antwortete Gabi traurig. Genervt seufzend ließ sie sich dann mit einem wirklich mordsmäßigen Stapel Papiere auf den Schreibtischsessel sinken und begann mit der Arbeit. Biggi machte sich inzwischen auf den Weg in den Hangar, um nachher Thomas empfangen zu können. Sie vermisste ihn schon wieder total, obwohl er erst seit einer halben Stunde weg war. Lange brauchte sie nicht zu warten. Etwa eine halbe Minute später konnte sie den rotgelben Engel am Himmel erblicken. Kaum hatte Thomas den Heli gelandet, rannte er auf sie zu und nahm sie auf die Arme, worauf er sie freudig küsste. „Ich hab dich vermisst, mein Schatz.“, flüsterte er in ihr Ohr. „Ich dich auch.“, meinte Biggi lächelnd und legte ihre Arme um ihn, nachdem er sie wieder runtergelassen hatte. Michael und Peter blickten dem Spektakel nur schmunzelnd zu. „Muss Liebe schön sein …“, sagte Peter zu Michael, welcher bejahend nickte. „Gehen wir ein wenig spazieren?“, fragte Thomas Biggi dann. „Aber immer doch.“, stimmte Biggi zu und so gingen sie Arm in Arm Richtung Fluss. Dort ließen sie sich nach einer Weile am Ufer nieder, Thomas legte sich ins Gras, und Biggi kuschelte sich an ihn. Er legte den Arm um sie und küsste sie dann zärtlich, was sie sogleich erwiderte. Nebenbei zwitscherten ein paar Vögel und das Wasser der Salzach rauschte vor sich hin. Die beiden wurden immer stürmischer, ihre Küsse leidenschaftlicher. So erblickte sie Gabi, die während des Ausfüllens der Berichte nachdenklich aus dem Fenster schaute. „Die beiden haben’s gut. Die haben die Ruhe weg.“, meinte sie in einem neidischen Ton. „Jaja, warum müsst ihr auch heiraten? Ich finde, ihr wart so auch ein schönes Paar.“, antwortete ihr Michael und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Warum kannst du mich nicht vorher warnen? Du hast schließlich Erfahrung, also hättest du mir auch sagen können, dass die ganze Angelegenheit ein reiner Stress ist.“ Michael nickte und kratzte sich am Kinn. „Hm, stimmt schon, aber so groß der Stress davor auch ist, umso schöner ist es dann nachher. Und das will ich dir nun wirklich nicht durch ne blöde Vorwarnung verderben.“ „Hast ja Recht.“, meinte Gabi seufzend darauf.
Nach etwa einer Stunde kamen Thomas und Biggi in den Aufenthaltsraum. Sie hatten Lust auf einen Kaffee. „Wollt ihr auch ne Tasse, Freunde?“, fragte Biggi in die Runde. „Ja, gerne.“ „Für mich bitte drei.“, antwortete Gabi fix und fertig. Als sie sich anschließend alle zusammen an den runden Tisch setzten, fragte Peter: „Wisst ihr eigentlich jetzt schon, wo ihr heiraten wollt, Gabi?“ „Ne. Das ist es ja. Wir wissen gar nichts, und bevor wir nicht den Ort für die Trauung gefunden haben, können wir auch nicht ordentlich mit der Organisation beginnen.“ Alle nickten, das war natürlich verständlich. „Klar, das geht natürlich nicht. Habt ihr denn noch gar nichts in Aussicht?“ „Nein. Es muss viel Platz da sein und trotzdem nicht ungemütlich. Außerdem ein Ort, an dem sich alle wohl fühlen. So was findet man nicht so leicht. Die Restaurants und Festhallen, die ich kenne, sind alle ungeeignet.“, meinte Gabi niedergeschlagen. „Aber dafür weiß ich da was … die schönste Festhalle, die deine Gäste je gesehen haben, es ist außerdem genug Platz da und das mit dem wohl fühlen … tja, da braucht ihr euch überhaupt keine Sorgen machen.“, verriet Biggi grinsend. „Was meinst du?“ Keiner wusste, wovon Biggi sprach. Nur Thomas ahnte etwas. „Na klar! Warum sind wir da nicht früher draufgekommen? Die Basis! Ihr heiratet hier!“ Gabi bekam sogleich große Augen und war total begeistert, auch die anderen fanden die Idee klasse. „Ja, das ist die Idee! Jetzt brauchen wir nur noch Ebelsieder zu überzeugen, und die Sache ist geritzt!“
Somit war dieses Thema endlich erledigt. Die Basis würde der ideale Ort für die Trauung sein. „Und was ist eigentlich mit deinem Kleid, Gabi? Hast du das schon?“, fragte Biggi ihre Freundin. „Ja, das hab ich schon. Ich werde das von meiner Mutter nehmen, alte Familientradition. Ich hab ohnehin heute Abend nach der Schicht noch nen Termin bei der Schneiderin. Ach ja, sag mal, Biggi, hast du noch die eine Kette, die ich dir letztens zum Theater geliehen habe?“ „Oh ja, natürlich. Brauchst du die? Sie würde bestimmt gut zum Kleid passen.“ „Ja, das denke ich auch. Hm, am besten wäre es gewesen, ich hätte sie gleich mit zur Anprobe genommen. Aber das geht sich wohl nicht mehr aus.“, meinte sie. „Oh nein. Ich würde sie dir ja gerne holen, aber vor der Schicht schaffe ich das nicht.“, sagte Biggi enttäuscht. „Hey, ich kann sie ja holen. Ich fahr nach der Schicht gleich nachhause, bringe sie dir und kann ja dann noch ein wenig hier bleiben und Berichte ausfüllen.“, bot Thomas den beiden an. „Oh, das ist so lieb von dir, danke mein Schatz.“ „Aber gerne doch.“, meinte Thomas lächelnd und küsste seine Biggi zärtlich.
Die Schicht dauerte ohnehin nicht mehr lange. Nach zwei Stunden bereits konnten sich Michael, Peter und Thomas für den wohlverdienten Feierabend bereitmachen. Thomas beschloss, gleich nachhause zu fahren, um möglichst bald wieder hier zu sein. „Wo finde ich die Kette denn?“ „In meiner Schmuckschatulle im Schlafzimmer. Du musst nachsehen, ich glaube die Ketten sind in der zweiten Schublade und sonst in der dritten. Gabis Kette ist in einer kleinen, blauen Schatulle, das erkennst du gleich.“ „Ok, alles klar.“ Sie verabschiedeten sich mit einer innigen Umarmung, bevor sich Thomas auf den Weg nach draußen machte. Nach wenigen Minuten kam er schon an der Villa an und stieg sogleich die Treppen nach oben ins Schlafzimmer. Er war froh, dass er Gabi und Ralf zumindest ein wenig bei ihrem Stress unterstützen konnte, sie taten ohnehin schon allen Leid. Nach der Schmuckschatulle brauchte er nicht lange zu suchen, sie war nämlich nicht klein. Erst sah er in die zweite Schublade, in der er allerdings keine Ketten vorfand. Sie war voll gestopft mit Briefen, Postkarten und anderen Dingen, die Biggi wohl am Herzen lagen. Er schafft es kaum, die Lade wieder zu schließen und musste sich ganz schön anstrengen. Dabei bemerkte er nicht, wie ein rosaroter Briefumschlag neben ihm zu Boden fiel, er hatte ganz oben bei den Briefen gelegen. In der dritten Lade fand er gleich die Halsketten und Gabis Schatulle. Zufrieden nahm er sie heraus, steckte sie in die Tasche und schloss wieder die Lade. Dann bemerkte er plötzlich den rosa Briefumschlag auf dem Boden. Mit fragendem Blick hob er ihn auf und sah ihn sich an. Er war natürlich an Biggi adressiert. Was ihn aber plötzlich stutzig machte, waren die roten Herzen, die vorne auf den Umschlag gemalt worden waren. Was sollte das bedeuten? War das etwa ein Liebesbrief? Wahrscheinlich war es irgendein alter Brief aus der Zeit, bevor sie mit ihm zusammen war. Aber warum hob sie sich die Dinger auf? Nein, er konnte nicht anders, er musste sich jetzt versichern, dass der Brief uralt war. Ganz langsam zog er den rosa Brief aus dem Umschlag und faltete ihn auseinander. Es war ihm bewusst, dass er etwas verbotenes tat. Und es war ihm bewusst, dass er Biggi vertrauen sollte und es auch konnte. Er wusste, wie sehr sie ihn liebte. Also wieso auch sollte dieser Brief ein Grund zur Beunruhigung sein? All diese Gedanken konnten ihn jedoch nicht davon abhalten, sich doch ganz einfach zu versichern. Und so begann er, die Zeilen zu lesen, die mit Tinte auf das Briefpapier geschrieben waren.
Liebste Biggi!
Warum machst du mir das Leben so schwer? Ich liebe dich unendlich, und das weißt du auch. So oft habe ich es dir gezeigt. Und jedes Mal hast du meine Liebe erwidert. Du hast mir nach jeder unserer schönen, zweisamen Nächte geschworen, dich zu trennen und endlich zu mir zu kommen! Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus. Wie kann es nur so schwer sein, sich zwischen mir und diesem Fliegerfreak zu entscheiden? Bei mir hast du eine sichere Zukunft, wir können eine Familie gründen, wir würden es wunderschön haben! Bitte verlasse Thomas! Er ist nichts für dich. Ich bin der einzig richtige für dich, denn ich liebe dich unendlich.
In Liebe,
dein Günther
Ganz langsam flatterte das rosa Papier wieder zu Boden. Ganz langsam schaffte es Thomas, sich auf die Bettkante zu setzen. Er konnte es nicht fassen. Günther. Biggi hatte ein Verhältnis. Mit Günther. Einem wildfremden Menschen, der ihr einen Liebesbrief geschrieben hatte. Er musste erst vor wenigen Tagen angekommen sein, denn in der Lade mit den Briefen befanden sich ganz oben auch Postkarten aus Michaels und Peters letztem Urlaub, der gerade erst zurücklag. Er konnte es einfach nicht glauben. Wieso? Warum? Was hatte Biggi für einen Grund, ihn zu betrügen? Angeblich liebte sie ihn mehr als alles andere auf der Welt. Eine Lüge. Das war alles eine Lüge. Die ganze Beziehung zu Biggi. Zu der Frau, die für ihn alles, mehr als alles bedeutete. Eine Lüge. Eine unglaubliche Wut, vor allem aber Eifersucht, stieg in ihm hoch. Warum tat sie ihm das an? Er wusste es nicht. Höchste Zeit, sich dafür eine Antwort zu suchen. Er rappelte sich hoch, stürmte die Treppen hinunter, ins Auto hinein und raste zur Basis. Noch nie war er diesen Weg so schnell gefahren und er hatte größtes Glück, dass er bei seinen riskanten Manövern nicht noch einen Unfall baute. Mit quietschenden Reifen parkte er ungestüm auf dem Parkplatz vor der Basis. „Oh Mann, was hat Thomas es denn so eilig?“, fragte Biggi im Aufenthaltsraum verwundert Gabi, als sie ihn durch das Fenster erblickte. Doch sie dachte sich nichts weiter dabei. Mit einem freudigen Lächeln trat sie hinaus auf den Flur, um ihren Schatz zu empfangen. „Hallo Liebling!“, begrüßte sie ihn und wollte ihn gerade in den Arm nehmen, als sie seinen starren, zornigen Blick bemerkte und er sie kurz darauf unsanft vor sich weg stieß. Biggi verstand überhaupt nichts mehr. Verdattert stand sie da und sah ihn mit einem erwartungsvollen Blick an. Sein Verhalten musste ja irgendeine Erklärung haben. „Warum tust du mir das an?“, fragte er sie brüllend ins Gesicht. „Was?“, fragte Biggi ihn zurück. Sie verstand nichts mehr, absolut nichts mehr. Was war nur in Thomas gefahren? „Stell dich nicht so, als ob du es nicht genau wüsstest.“ Vor Aufregung konnte er kaum noch ruhig atmen. „Als ob ich was nicht wüsste?“ Langsam wurde es Biggi selbst zu blöd. Thomas hatte keinen Grund, sie so anzuschreien. „Na Günther! Ihr habt ein Verhältnis und du möchtest mich wegen ihm verlassen!“ „Was? Du bist ja völlig verrückt. Woher hast du diesen Blödsinn? Wie kommst du darauf, dass ich dich je wegen irgendeines Kerls verlassen würde?“ „Jetzt streitest du es auch noch ab. Ich hab es doch schwarz auf weiß. Oder soll ich sagen, blau auf rosa?“ „Das ist absoluter Blödsinn! Ich verstehe nicht, was du meinst!“ „Ach, das tust du nicht? Na dann wäre das wohl das letzte, was wir in unserem Leben miteinander zu klären hätten. Ich hätte erwartet, dass du mich wenigstens um Verzeihung bittest. Aber es auch noch abzustreiten!“ „Thomas, ich weiß nichts von einem Günther! Kapierst du das nicht!“ „Nein, das kapiere ich nicht!“, brüllte ihr Thomas ins Gesicht. „Und ich kapiere auch nicht, wie du alle unsere schönen Monate miteinander vergessen kannst! Es ist dir völlig egal, wie sehr ich dich liebe! Ich bin dir völlig gleichgültig! Ich bin doch nichts als ein Stück Dreck für dich.“ Thomas war komplett außer sich. Seine Augen waren tränenfeucht. Doch das schwächte seine Wut nicht im Geringsten ab. „Aber Thomas!“ Biggi wusste nicht mehr, was sie tun sollte. „Lass mich in Ruhe! Und zwar für immer.“, fauchte Thomas ihr zornig zu, seine Augen funkelten und seine Stimme bebte. Dann zog er die Schatulle mit Gabis Kette aus der Tasche, stellte sie unsanft auf das Fenstersims im Flur und drehte sich mit einem Ruck um. Er knallte die Basistür hinter sich zu, dass die Wände beinahe bebten. Dann stieg er in sein Auto und brauste mit aufheulendem Motor davon. Auf dem Weg ins nächste Lokal.
Noch eine ganze Weile stand Biggi da und starrte reglos auf den leeren Parkplatz, von dem Thomas verschwunden war. Gabi, die all das vorhin schockiert mitbekommen hatte, trat ganz vorsichtig hinter sie. Langsam flossen Biggi Tränen über die Wangen. Es war ihr, als ob sie das alles gerade geträumt hätte. Thomas hatte sie verlassen. Er hatte sie verlassen, ihre Beziehung beendet und sie wusste nicht einmal, warum. Gabi legte ihrer Freundin von hinten die Hand auf die Schulter. Daraufhin drehte Biggi ich um und ließ sich verzweifelt in die Arme ihrer Freundin fallen. Kurz darauf begann sie, herzzerreißend zu weinen. Gabi wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war selbst völlig entsetzt. Thomas war so gut wie immer ruhig und gelassen, seinen Nerven konnte der schlimmste Einsatz so schnell nichts anhaben. Wenn er mal ausgerastet war, hatte das noch lange nicht an die Situation vorhin herangereicht. Das hatte sie noch nie erlebt. Und Biggi erst recht nicht. Beruhigend strich sie ihrer Freundin über den Rücken, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. „Komm, wir setzen uns erstmal aufs Sofa.“, meinte sie dann nach einer Weile leise und zog ihre Freundin sanft in die hintere Ecke des Aufenthaltsraums. Biggi war total fertig. Sie konnte sich das alles nicht erklären, sie war einfach immer noch starr vor Entsetzen und hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte. Was sollte sie jetzt tun? Ohne Thomas? In den letzten paar Monaten war er es gewesen, der ihr Leben lebenswert gemacht hatte. Und jetzt war plötzlich alles kaputt. Er hatte Schluss gemacht und sie verstand immer noch nicht, warum. Gabi hatte sich mit ihr aufs Sofa gesetzt und hielt sie immer noch im Arm. „Gabi, warum hat er das gemacht?“, fragte Biggi ihre Freundin schließlich leise. Ihre Stimme zitterte und sie brachte kaum einen richtigen Ton heraus. „Ich … ich weiß es nicht, Biggi. Aber bestimmt gibt es irgendeine Erklärung, warum er so spinnt. Glaub mir, wir finden es bestimmt heraus.“ „Nein, das tun wir bestimmt nicht. Du hast es doch gehört … er hat Schluss gemacht.“, antwortete Biggi total verweint. „Ja, aber es wird einen Grund geben! Irgendein Missverständnis, glaub mir. Du hast ihn schließlich nicht betrogen.“ „Eher lasse ich mein Leben, bevor ich ihn betrüge.“, bestärkte Biggi die Worte ihrer Freundin. „Na eben. Es wird alles gut, glaub mir.“, meinte Gabi leise und drückte sie an sich. Nach einer Weile kam Michael herein, er war nach seiner Schicht noch nicht nachhause gegangen, um noch Papierkram zu erledigen. Als er Gabi und Biggi so auf dem Sofa sitzen sah, blickte er Gabi fragend an. „Ist etwas passiert?“, fragte er, total besorgt bei Biggis Anblick. „Das kann man wohl sagen.“, antwortete Gabi ihm betroffen. Michael setzte sich zu ihnen aufs Sofa, legte seine Hand auf Biggis Schulter und ließ sich von Gabi erzählen: „Vorhin kam Thomas hereingerauscht, als wäre er von zehn Hornissen gestochen worden und warf Biggi vor, sie würde ihn betrügen. Er hat sich überhaupt nichts erklären lassen, er war total außer sich und dann hat er mit ihr Schluss gemacht.“ „Was??? Wie bitte???“ Michael konnte es nicht fassen. Ausgerechnet Thomas. Biggi war seine große Liebe. Und er machte einfach so mit ihr Schluss. Michael verstand die Welt nicht mehr. „Das gibt’s doch nicht. Dieser alte Sturkopf. Wie kommt er denn auf diesen Mist?“ Gabi zuckte nur mit den Schultern. „Er meinte irgendwas von er hätte es blau auf rosa. Ich hab keine Ahnung, was er damit meint.“, sagte Biggi verzweifelt. Michael schüttelte nur den Kopf. „Ich auch nicht. Aber wir werden es herausfinden. Glaub mir, Biggi, es ist bestimmt nur irgendein bescheuertes Missverständnis.“ „Aber wie soll ich ihn denn davon überzeugen? Er lässt doch nicht mit sich reden.“ Wieder überkam sie ein Anfall von Tränen. „Das werde ich jetzt versuchen. Ich fahr gleich mal nachhause und sehe nach, was los ist.“, meinte Michael. „Fragt sich aber, ob er überhaupt zuhause ist.“, gab Gabi zu bedenken. „Tja, das wollen wir zumindest hoffen.“ Er stand auf und suchte nach seinem Autoschlüssel. „Das wird schon wieder, Biggi. Ich stelle ihn zur Rede und dann soll er mal seine endlose Sturheit ablegen und dir zuhören.“ Er klopfte ihr aufheiternd auf die Schulter und machte sich dann auf den Weg. „Bis später!“, verabschiedete er sich noch mal und fuhr dann los zur Villa. Inzwischen versuchte Gabi, Biggi so gut es ging abzulenken. Das klappte natürlich kaum, sie hatte es auch nicht anders erwartet, umso mehr freute sie sich über die Einsätze, die sie an diesem Tag erwarteten. Zwar fiel es Biggi schwer, ihre volle Konzentration darauf zu lenken, doch hatte sie hier noch am ehesten die Chance, sich nicht ständig selbst mit den Gedanken daran fertig machen zu müssen.
Nach dem dritten Einsatz, als sie gerade auf dem Sofa saßen und Biggi wieder einmal verzweifelt in die Luft starrte, kam Michael auf die Basis. Er schüttelte nur enttäuscht den Kopf. „Ich hab ihn überall gesucht, aber er war nicht zu finden. Wie ich ihn kenne …“, er hielt in seinem Satz inne. „Wie du ihn kennst?“, Biggis Augen waren wieder mit Tränen gefüllt. „Ach, nichts. Ich weiß es nicht.“, sagte Michael nur darauf. „Bitte sag es mir. Wo ist er?“ Michael seufzte. „Na ja, ich fürchte, er lässt sich in irgendeiner Kneipe voll laufen. Schließlich hat er etwas gemacht, woran er in seinem Leben wohl als allerletztes gedacht hätte.“ Biggi konnte nicht anders, sie brach in Tränen aus und lief aus dem Aufenthaltsraum. Gabi rannte ihr sogleich hinterher, und Michael folgte ihr zögerlich. Biggi war in den Hangar gerannt und ließ sich dort verzweifelt auf das Rollbrett sinken. Ihr ganzer Körper wurde vom Weinen durchgeschüttelt und sie konnte sich absolut nicht mehr beruhigen. Gabi setzte sich zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. „Komm, Biggi, mach dich nicht fertig. Das bringt nichts. Sobald er mit sich reden lässt, wird sich die Sache aufklären, und er wird sich bei dir entschuldigen.“ „Nein, wird sie nicht.“, stammelte Biggi unter Tränen. „Wenn er betrunken ist, macht er bestimmt irgendeinen Blödsinn. Ich hab so Angst.“ Gabi blickte Michael hilfesuchend an. Was sollte sie darauf erwidern? Wenn sie selbst fast dasselbe befürchtete? Auf jeden Fall musste Biggi aufhören, sich fertig zu machen. Sie war schon vollkommen erschöpft von der ganzen Verzweiflung. Dann fragte sie Biggi: „Sollen wir dir etwas zur Beruhigung geben? Und nachher kommst du dann zu uns. Ralf hat bestimmt nichts dagegen. Hm, was meinst du?“ Biggi nickte nur. „Danke.“, sagte sie leise. Dann ließ sie sich von Michael und Gabi aufhelfen und sie gingen langsam zurück in den Aufenthaltsraum, wo Michael Ralf bat, eine Spritze mit Diazepam bereitzumachen. Gabi setzte sich mit Biggi wieder aufs Sofa und schob ihr den Ärmel des Overalls hoch. Als Michael ihr schließlich das Beruhigungsmittel injizierte, zuckte sie nur kurz auf, merkte dann aber bald, wie es ihr besser ging. Sie zitterte nicht mehr, und auch die Angst um Thomas war nicht mehr so stark. Viel mehr wandelte sich alles zu Wut. Warum hatte er ihr auch nicht zugehört? Warum ließ er nicht mit sich reden? Er war ein alter Sturkopf. Er ließ sich nichts erklären, absolut gar nichts. Kein Wunder also, dass er nun wohl von einer Kneipe zur anderen wanderte. Sie beschloss, es ihm gleich zu tun. Nicht, was die Kneipe betraf, sondern was sein Verhalten betraf. Wenn er auf stur stellte, konnte sie das schon lange. Wenn er mit ihr Schluss machte, na gut, dann ging sie darauf ein. Es hatte ja ohnehin keinen Zweck. Und obgleich sie sich am liebsten in die Salzach hätte fallen und nie wieder auftauchen lassen würde, irgendwie musste sie ja doch weitermachen. Auch wenn sie im Moment nicht so recht wusste, wie. Ohne Thomas. Ohne ihren Lebenssinn. Aber es würde funktionieren. Er brauchte sie schließlich auch nicht mehr. So stellte er es zumindest hin.
„Soll ich dich anrufen, wenn er heute Abend nachhause kommt?“, fragte Michael Biggi. Sie schüttelte nur den Kopf. „Das kann mich sonst wohin, wann er nachhause kommt. Es interessiert mich nicht mehr.“ „Bist du dir sicher?“, fragte Michael noch mal nach. „Ja, bestimmt. Aber danke für das Angebot.“ „Kein Problem.“ Michael überlegte, ob das Beruhigungsmittel Biggis Stimmungswandel bewirkt hatte. Doch so hoch war die Dosis nun auch wieder nicht gewesen. Biggi wusste insgeheim, dass sie log. Natürlich interessierte es sie, was mit Thomas war und wann er nachhause kommen würde. Die Sorge um ihn brachte sie fast um. Doch gerade das war es, was sie ärgerte. Sie hatte sich keine Sorgen mehr um ihn zu machen. Er hatte sie verlassen, sie war also sauer auf ihn und nicht mehr auf irgendwelche Informationen über ihn angewiesen. Das versucht sie, sich einzureden. Doch Gefühle konnte man nicht so einfach ausschalten, als wären sie kleine Programme in einem Computer. Man konnte nicht den Schalter drücken und dann waren sie nicht mehr da. Dieselbe Erfahrung musste auch Thomas machen, als er an diesem Abend tatsächlich von einer Kneipe zur anderen rauschte und jedes Mal erneut versuchte, mit Alkohol seine Gefühle für Biggi zu ertränken. Doch das funktionierte nicht. Allerdings sollte das nie jemand erfahren, schon gar nicht Biggi. Es war aus.
In dieser Überzeugung blieben sie auch die nächsten drei Wochen. Als Thomas an jenem Dienstag mitten in der Nacht nachhause getorkelt war, hatte Michael mit viel Mühe versucht, mit ihm zu sprechen, doch das hatte natürlich keinen Sinn gehabt. Auch am nächsten Tag bekam er nur Thomas’ Sturkopf zu spüren. Auf der Basis funkelten sich Biggi und Thomas zu Beginn nur immer böse an, bis sie das nicht mehr aushielten und sich irgendwann einfach nur mehr aus dem Weg gingen und kein Wort miteinander sprachen. Beide schafften es kaum, mit dieser Situation umzugehen und konnten die Gefühle für den anderen nicht verdrängen. Sie liebten sich doch. Doch die Wut war zu groß. Und Biggi machte auch nicht den geringsten Ansatz irgendeiner Aussprache. Sie sah nicht ein, warum sie nach so einer Dummheit von Thomas den ersten Schritt machen sollte.
Eines Tages Anfang September regnete es in Strömen. Gerade näherte sich die Schicht von Gabi, Biggi und Ralf dem Ende zu und sie ließen sich erschöpft auf das Sofa im Aufenthaltsraum sinken. Die letzten Einsätze waren mehr als anstrengend und nervenraubend gewesen. Als Biggi Thomas’ Auto auf den Parkplatz fahren hörte, stand sie sofort auf und verließ den Aufenthaltsraum. Mit schnellen Schritten nahm sie den Weg hinten um den Hangar, um so zu ihrer Lieblingsstelle am Fluss zu kommen. Da saß sie in den letzten drei Wochen immer, wenn sie einer bestimmten Person in der Basis nicht begegnen wollte. Vor geraumer Zeit war sie dort nie einsam gewesen. Jetzt war sie es. Und wieder weinte sie dort bittere Tränen, während sie in das Wasser starrte, das unaufhörlich vom Regen beprasselt wurde. Noch immer hatte sie nicht verstanden, warum Thomas das getan hatte. Es wollte einfach nicht in ihren Kopf. Er hatte einfach so die Beziehung beendet, nachdem sie beide in ihrem Leben noch niemals zuvor glücklicher gewesen waren. Ja, und jetzt, jetzt war sie noch niemals zuvor in ihrem Leben unglücklicher gewesen.
Sie versuchte, nicht darüber nachzugrübeln, ob es Thomas genauso ging. Sie ging nicht davon aus, warum sonst hätte er auch einfach so den Schlussstrich gezogen, ohne dem Missverständnis, das da eindeutig vorlag, noch mal genauer auf den Grund zu gehen. Klar, sie könnte jetzt hingehen, ihn noch mal nach diesem Grund fragen und es dann vielleicht aufklären, aber dazu war sie selbst zu stur. Er hatte ihnen die Sache eingebrockt, warum sollte sie also jetzt den ersten Schritt machen? Sobald ihm auffiel, wie blöd er sich eigentlich verhalten hatte, würde er schon mal darüber nachdenken, ob da alles so mit rechten Dingen zuging. So lange jedenfalls, beschloss Biggi, nicht mehr als das nötigste Wort mit ihm zu wechseln. Selbst wenn ihr das innerlich vor Schmerz das Herz zerfraß.
Thomas ging es genauso. Er war mehr als weit davon entfernt, Biggi irgendwann noch mal auf diesen Brief anzusprechen. Er war der vollsten Überzeugung, dass es gar keinen Zweifel an der Affäre zwischen ihr und diesem Günther gab. Warum also sollte er noch weiter nachforschen? Es tat ihm unheimlich weh, Biggi, seiner großen Liebe, für die sich seine Gefühle nicht im Geringsten geändert hatten, so aus dem Weg zu gehen. Wenn sie zufällig mal ein Wort miteinander wechselten, geschah das auf mehr als die unfreundlichste Art und Weise. So waren sie noch nie miteinander umgegangen. Aber beide waren eben wütend und verletzt und versuchten, die Gefühle füreinander zu verdrängen.
Als Thomas sich umzog, blickte er wie so oft auf ein Foto, das in seinem Spind hang. Es zeigte ihn und Biggi auf dem Sofa, als sie an ihn gekuschelt auf seinem Schoß saß und sie sich verliebt anlächelten. Er hatte es nicht geschafft, das Foto abzunehmen und gar noch wegzuwerfen. Er ließ es einfach hängen und bei der Erinnerung an die schönsten Monate seines Lebens trieb es ihm wieder Tränen in die Augen. Wie hatte Biggi ihm nur so etwas antun können? Hatte sie ihn nicht genauso geliebt wie er sie? Offensichtlich nicht. Er musste langsam versuchen, das alles zu vergessen. Doch noch war das viel zu schwer.
Leise seufzend schloss er die Spindtür und machte sich auf den Weg in den Aufenthaltsraum. „Hi.“, begrüßte er dort die anderen und setzte sich gerade auf das Sofa, als Max hereinkam. „Ach Thomas, gut, dass du schon da bist. Ich muss dringend was mit dir und Biggi besprechen, wegen dem neuen Navigationssystem. Vielleicht kriegen wir Ebelsieder doch rum, unseres ein wenig aufputschen zu lassen. Bitte sag Biggi Bescheid und kommt dann in den Hangar.“ „Aber …“, wollte Thomas noch was sagen, doch Max war bereits verschwunden. Na klasse, jetzt durfte er auch noch Biggi holen. Er hatte keine Ahnung, wo sie war. Genervt stöhnte er auf und erhob sich. „Habt ihr ne Ahnung, wo Biggi ist?“, fragte er die anderen. „Die könntest du eigentlich selbst haben. Vorhin hab ich sie wieder draußen am Flussufer gesehen.“, antwortete Ralf ihm. „Bei dem Wetter?“, fragte Michael verwundert. „Tja, sie wird schon ihren Grund haben …“, sagte Ralf darauf nur und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Vorwurfsvoll blickte Michael daraufhin Thomas an. Keiner von den anderen im Team verstand, warum er nur so stur und engstirnig war. Sie waren alle davon überzeugt, dass Biggi ihn nie betrogen hatte und alles ein großes Missverständnis war. Doch jedes Mal, wenn sie versucht hatten, es ihm klar zu machen, hatte er vehement abgeblockt. Irgendwann hatten sie es dann aufgegeben und seit ein paar Tagen sprach keiner mehr darüber, auch wenn sie ihnen beide total Leid taten. Vor allem aber Biggi, schließlich konnte sie nichts dafür, dass Thomas sich von einer Stunde auf die andere so aufgeführt hatte. Sie hofften alle sehr, dass einer von ihnen irgendwann begann, auf den anderen zuzugehen, ansonsten sahen sie schwarz. Sie waren beide nicht mehr wieder zu erkennen seit jenem Dienstag im August.
Thomas ignorierte den Blick seines Freundes und verließ den Aufenthaltsraum. Dann trat er nach draußen vor die Basis und machte sich auf den Weg zum Fluss. Die Stelle, wo Biggi mit Sicherheit saß, kannte er bereits nur zu gut. Seit drei Wochen allerdings war er nicht mehr hier gesessen. Zu sehr erinnerte ihn das Ufer an der Salzach an die wunderschöne Zeit mit Biggi, bevor … na ja, bevor dieser Brief ihnen einen Schlussstrich gezogen hatte. Biggi schien ihn nicht zu bemerken, als er von hinten an sie herantrat. Sie hielt ein Foto in der Hand, ihr Lieblingsfoto. Dasselbe, das auch in Thomas’ Spind hang. Eine Weile beobachtete er, wie sie so da saß und ins Wasser blickte. Die Tränen, die in ihren Augen waren, konnte er nicht sehen. „Hey, Biggi.“, machte er sie auf sich aufmerksam. Sie erschrak, drehte sich aber nicht um. Er sollte ihre Tränen nicht sehen. „Was ist denn?“, fragte sie ihn nur. „Max will mit uns sprechen.“ „Worüber?“ „Über das neue Navigationssystem.“ Biggi seufzte auf. „Muss das jetzt sein?“ „Ich denke schon.“ „Na gut.“, meinte sie darauf und wartete, bis Thomas schon mal vor ging. Aber das passierte nicht. Offensichtlich hatte er vor, auf sie zu warten. Biggi überlegte fieberhaft, wie sie das Foto verstecken sollte, ohne dass er es bemerkte. Sie rollte es zusammen und steckte es so unauffällig wie möglich in ihre Tasche, nebenbei wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Sie war allerdings nicht unauffällig genug. Thomas bemerkte das Foto in ihrer Hand sofort. Er erkannte es an der roten Hinterseite. Die hatte er damals ausgemalt, mit lauter kleinen Herzen, als er ihr es geschenkt hatte. Dass sie über diesem Foto saß, versetzte ihm einen kleinen Stich ins Herz. Lag er ihr etwa doch irgendwie noch am Herzen? Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, es brachte ja doch nichts. Er musste sie langsam von seinem Herzen verdrängen. Damit war er schon die längste Zeit beschäftigt. Bis jetzt allerdings mit null Erfolg. Biggi stand auf und drehte sich um, blickte ihm natürlich nicht in die Augen, sondern senkte den Blick zum Boden. Er überquerte schließlich die kleine Straße, die zwischen Basis und Fluss lag und drehte sich dann zu ihr um. Darauf konzentriert, ihn bloß nicht anzusehen, stolperte Biggi plötzlich auf der Böschung und fiel direkt auf die Straße. Thomas blickte auf die Seite und sah plötzlich einen dunklen Wagen auf sie zurasen. Er konnte gar nicht schnell genug hinblicken, konnte nichts tun – er war starr vor Schreck. „Neiiiiin!!!“, brüllte er nur. Der Fahrer war niemand geringerer als Ebelsieder. Dieser erblickte ihn im allerletzten Moment und sah dann Biggi auf der Straße. Mit einem gewaltigen Ruck trat er aufs Bremspedal und kam nach einem ungeheuren Quietschen schließlich zwei Millimeter vor Biggi zu stehen. Weder Biggi noch Thomas konnten in diesem Moment atmen. Biggi starrte immer noch mit aufgerissenen Augen auf die Motorhaube vor sich. Ebelsieder musste erstmal durchatmen. Als Thomas wieder den ersten klaren Gedanken fassen konnte, stürzte er sofort zu Biggi. „Ist dir was passiert?“, fragte er total ängstlich und besorgt. Es war ihm alles egal. In der einen Sekunde, in der er Biggi schon unter den Reifen dieses Autos gesehen hatte, war an ihm alles vorübergezogen – alles, was geschehen war. So eine Todesangst hatte er noch nie durchgestanden. Er hatte alles vergessen. Alles, diesen Brief, Günther, den Streit, die letzten drei Wochen. Vor sich hatte er nur Biggi gesehen und in sich nur seine innige Liebe zu ihr gespürt. Das einzige Gefühl, das er nur annähernd damit vergleichen konnte, war der Anblick von Vera gewesen, als sie vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Und jetzt das. Sein Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Biggi stand ebenso total unter Schock und schaffte es mit seiner Hilfe erstmal, sich aufzurappeln. „Mann, Biggi, wo sehen Sie denn hin? Denken Sie, ich hab Lust, mir ne neue Pilotin zu suchen?“, fragte Ebelsieder sie dann durch das offene Autofenster. „Fahren Sie mal lieber mit normaler Geschwindigkeit übers Basisgelände! So jemand will Leiter eines Rettungsteams sein.“, antwortete Thomas ihm nur abfällig zurück und zog Biggi sanft von der Straße. Er spürte, wie sie zitterte. Sie sah immer noch dieses Auto auf sich zu rasen. „Danke.“, sagte sie leise zu ihm und blickte ihn dann an. Er erwiderte den Blick und konnte sich plötzlich nicht mehr losreißen. Er war wie gefesselt. Sie sahen sich tief in die Augen, und er meinte leise: „Schon gut.“ Dann fasste er sich ein Herz und nahm ihre Hand. „Ich …“, begann er. „Ich …“ „Ach, da seid ihr ja endlich!“, ertönte plötzlich Max’ Stimme hinter ihnen. „Ich hab mich schon gefragt, wo ihr bleibt. Also, wegen dem Navigationssystem …“, begann er zu erklären. Doch auch er wurde unterbrochen. „Rettungsleitstelle an Medicopter 117. Unfall in einem Wasserkraftwerk in Garmisch. GPS-Koordinaten per Funk. Over and Out.“ Biggi blickte auf die Uhr. Es war immer noch ihre Schicht. „Na dann …“, meinte sie und wollte schon Richtung Heli rennen. „Ne, du bleibst hier. Du wärst grade fast überfahren worden. Ruh dich besser hier aus.“ „Wieso denn? Ist ja nix passiert. Keine Widerrede, ich fliege.“ „Nein, ich will das aber nicht!“, protestierte Thomas. Er hatte wirklich Angst um sie. Schließlich hatte sie vorhin noch am ganzen Leib gezittert. Und jetzt sollte es ihr schon wieder gut gehen? „Ach bitte, was führt ihr euch denn auf wie kleine Kinder? Wenn ihr euch nicht entscheiden könnt, fliegt eben beide.“, ging Max zwischen die beiden. Biggi und Thomas blickten sich an und bemerkten dann, dass sie wirklich keine Zeit mehr hatten. Also willigten sie ein und rannten schließlich beide zum Helicopter. Michael und Peter kamen auch bereits herbeigelaufen. Im Gegensatz zu Biggi und Thomas hatten sie sich einigen können und den Rest der Schicht von Gabi und Ralf übernommen. Die beiden hatten schließlich genug Stress. Biggi setzte sich vor Thomas auf den Pilotensitz und warf den Rotor an. Also blieb Thomas nichts anderes übrig, als auf den Copilotensitz zu steigen. „Nanu, ihr fliegt beide?“, fragte Michael sie verwundert. „Ja, wenn jemand zu stur ist, sich seine Schicht übernehmen zu lassen.“, sagte Thomas nur darauf. „Ach ja, mit der Sturheit haben wir ja alle so unser Leiden, nicht wahr, Thomas?“, erwiderte Michael darauf nur. So schlossen sie die Helitüren und flogen mit Karacho ab. Das Wasserkraftwerk war nicht schwer zu finden. Es war ein riesiges Gebäude mitten in der Einöde bei Garmisch. Unzählige Kanäle gingen davon ab und mündeten unter anderem in die Salzach. Biggi landete den Heli auf dem großen Parkplatz vor dem Haupteingang, worauf Michael und Peter sofort heraussprangen, sich die Ausrüstung griffen und in das Gebäude liefen. Thomas und Biggi kamen mit der Trage hinterher. Drinnen erwartete sie bereits ein Angestellter des Kraftwerks, der sie in einen der unzähligen Gänge und dann mit einem Fahrstuhl in einen der obersten Arbeitsbereiche führte. Sie mussten sich durch eine Menge Rohre und Metallbrücken durchkämpfen, und als sie der Unfallstelle näher kamen, hörten sie ein gewaltiges Wasserrauschen vor sich. „Hier ist eines der Hauptrohre geplatzt. Wir haben es geschafft, das Wasser in einen Kanal umzuleiten, aber ein Mitarbeiter ist dabei von der oberen Ebene mit dem Wasser hier runter geschwemmt worden. Dieses Wasser hier hat eine ungeheure Kraft, müssen Sie wissen.“ Der Mitarbeiter lag mit einer großen Platzwunde am Kopf bewusstlos auf dem Boden, neben ihm floss ein riesiger Wasserschwall, vergleichbar mit einem Wasserfall, in einen breiten Kanal mehrere Ebenen tiefer. „Passen Sie auf hier, das ist rutschig, und wer da runter fällt, ist praktisch verloren.“ „Danke, wir werden drauf achten.“, antwortete Michael der viel versprechenden Warnung des Angestellten. Dann kümmerte er sich erstmal um den Verletzten. Er überprüfte seine Vitalfunktionen und stellte zu seinem Erleichtern fest, dass er nur bewusstlos war, aber noch normal atmete und auch sein Herz in Ordnung war. „Ok, Peter, ich versorge erstmal die Platzwunde. Bereit inzwischen ne Infusion vor, gegen den Schock. 500 ml Ringer-Lösung, ok?“ Peter nickte und machte sich gleich an die Arbeit. „Thomas, kannst du mal den Beutel halten?“ „Klar.“ Thomas kniete sich zu Michael und Peter und nahm den Infusionsbeutel. Biggi legte schließlich neben ihnen die Trage ab. Dabei fiel ihr Blick plötzlich auf Thomas’ Overalltasche. Daraus blitzte ein Stück eines Fotos hervor. Sie sah genauer hin, und was sie dort sah, versetzte ihr einen gewaltigen Schrecken. Auf dem Foto erblickte sie nicht etwa sich oder Thomas oder irgendjemanden ihrer Freunde. Nein, sie erblickte eine wildfremde, blonde Frau, die ihr entgegenlachte. Was sollte das bedeuten? Warum hatte Thomas das Foto einer fremden Frau in der Tasche? Drei Wochen, nachdem er mit ihr Schluss gemacht hatte. Biggi konnte es nicht fassen. Sie stand auf und machte ein paar Schritte zurück. Irgendwann bemerkte Thomas ihren starren Blick, der immer noch unverfehlbar auf seine Overalltasche gerichtet war. „Biggi, was ist los?“ Sie antwortete nicht. Der Schreck war so groß, dass sie überhaupt nicht nachdachte und immer weiter nach hinten ging. Sie wollte ihm jetzt nicht nahe sein. Er hatte eine Neue, und das nach drei Wochen. Drei Wochen. „Biggi, pass auf! Biggi!!!“ Der Ruf kam zu spät. Michael und Peter konnten gar nicht schnell genug hinsehen, Thomas schaffte es nicht mal mehr, Luft zu holen. Unbewusst war Biggi bis an den großen Wasserschwall getreten, hatte das Tosen des wilden Wassers nicht mal registriert. Bevor sie auf Thomas’ Ruf reagieren konnte, wurde sie bereits von den Kräften des Wassers erfasst und mit einem lauten Strömen mit ihm in die Tiefe gezogen. „Biggi!!!! Neiiiiiiiiin!!!“, schrieen die anderen. Doch es half nichts. Sie konnten, sobald sie an den Abfall gestürzt waren, nur noch mit ansehen, wie Biggi mit dem Wasser in den Kanal gezogen wurde, in dem der Strom tobte wie in den wildesten Wasserfällen Amerikas. Biggi selbst spürte kaum noch, was mit ihr geschah, zu schnell stürzte sie mit dem Wasser bergab, zu rasend sah sie den Eingang in den Kanal auf sich zukommen. Oben starrten Michael, Peter und Thomas nur verzweifelt noch unten. Sie konnten immer noch nicht fassen, was gerade passiert war. Thomas brach schließlich auf dem Metallboden zusammen und warf den Kopf in seine Hände. „Neiiiin!!! Das darf doch einfach nicht wahr sein!!! Biggi!!!“ Michael erhob sich mühsam und versuchte dann, irgendwie klare Gedanken zu fassen. „Ok, ganz ruhig. Thomas, komm, wir dürfen sie nicht so schnell aufgeben! Nur wenn wir uns jetzt zusammenreißen, haben wir vielleicht ne Chance!! Hey, Sie da!“, sprach er den Angestellten an. „Wohn führt dieser Wasserfall?“ Dem Angestellten stand immer noch das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Ähm … also . Dieser Wasserfall führt notgedrungenermaßen in einen großen Kanal. Der hat aber mehrere Rohre, in die er sich zweigt. Keine Ahnung, wie viel Wasser wohin fließt, wir hatten diesen Notfall ja auch noch nie.“ „Wo beginnt dieser Kanal und wohin mündet er???“, fragte Michael ihn und war nahe dran, die Nerven zu verlieren. Peter hatte sich inzwischen über Thomas gebeugt und half ihm, aufzustehen. Er wusste wie Michael, dass klare Gedanken jetzt die einzige Chance waren, das Leben ihrer Kollegin zu retten. Ebenso verstand er aber Thomas’ Lage. „Irgendwann mündet der Kanal in die Salzach, aber das dauert lange, wissen Sie, wie groß unser Gelände hier ist?“ „Danke für die Aufklärung. Jetzt kommt, aber schnell!!!“, trieb er Peter und Thomas an und darauf rannten sie wie um ihr eigenes Leben die vielen Treppen und Gänge in das unterste Geschoss hinunter. Biggi war inzwischen mit dem Wasser in den Kanal getrieben worden, anschließend in eines der Rohre, das der Angestellte bereits erwähnt hatte. Dort war die Wassermenge nicht besonders groß und sie schaffte es nach langer Zeit endlich wieder, Luft zu holen. Sie war total geschwächt, doch ihr Überlebensinstinkt drängte sie dazu, sich in eine der vielen Verzweigungen zu retten, die vom Rohr ausgingen. Der Strom des Wassers war immer noch rasend schnell, doch mit allerletzter Kraft schaffte sie es nach einer Weile doch, sich in eine der Verzweigungen zu bewegen. Lange würde es nicht mehr dauern, und auch sie würde überschwemmt sein. Es war nur eine Frage der Zeit und das war auch Biggi klar. Irgendwo musste das Wasser schließlich hin. Erschöpft robbte sie an die Seite des Rohres. Es war fast völlig dunkel um sie und alles, was sie erkennen konnte, war das Wasser neben ihr und diese atemberaubende Kälte überall. Sie keuchte und rang nach Luft. Es tat unheimlich gut, endlich wieder Sauerstoff zu erlangen. So blieb sie einige Zeit liegen, war zu nichts fähig, außer zu atmen. Dann begann sie zu überlegen, wie sie sich aus dieser Lage befreien konnte. Das Rohr musste sich irgendwo unter der Erde befinden. Zumindest war sie schon so lange weitergeschwemmt worden, dass sie kaum glaubte, sich noch irgendwo im oder unter dem Gebäude zu befinden. Sie hatte eine unheimliche Angst. Als ihr bewusst wurde, dass sie irgendwo tief unter der Erde war und vor, hinter und neben sich nichts als Wasser war, flog die Panik in ihr an. Sie versuchte, langsam durchzuatmen und sich zu beruhigen, doch das klappte nicht gut. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. Das Funkgerät. Ihre Kollegen. Oh nein, bestimmt war es in all dem Wasser längst kaputtgegangen. Sie befürchtete das Schlimmste, als sie nach ihrer Overalltasche griff. Sie zog das Walkie heraus und holte es zu sich. Sie wagte kaum, den roten Knopf zu betätigen, mit dem sie sprechen konnte. Es war nichts zu hören. Kein Rauschen, nichts. Sie schüttelte es ein paar Mal, wobei wieder eine ganze Menge Wasser heraustropfte. Noch einmal betätigte sie die Sprechtaste. Sie konnte ihren Ohren kaum trauen, als sie daraufhin plötzlich ein Rauschen vernahm. „Hier Biggi, kann mich jemand hören?“ Oben an der Erdoberfläche konnte jemand anderes ebenso wenig seinen Ohren trauen. Thomas, Michael und Peter hatten soeben Biggis Stimme aus dem Funkgerät vernommen. Zitternd griffen sie nach ihren Walkies. „Biggi???“, fragte Thomas zurück. Noch nie war Biggi so froh gewesen, Thomas’ Stimme zu hören. Vor Glück wäre sie am liebsten in die Luft gesprungen, doch dazu hatte sie hier weder die Kraft noch die Möglichkeit. „Thomas!! Ich … ich bin so froh …!!“ „Biggi, wo bist du? Wie geht es dir?“, fragte Michael nun weiter. „Ich bin hier irgendwo in einem Rohr. Aber ich weiß nicht, wo es ist. Das Wasser hier steht nicht so hoch, aber es wird immer höher. Ich hab solche Angst!!“ Dazu hatte Biggi auch guten Grund. Durch den Druck und den Pegel des Wassers stieg immer mehr davon in das Rohr. Lange würde sie hier nicht so ruhig auf der Zweigung verbleiben können. Ohne Erbarmen würde das Wasser sie weiterspülen und sie im Kanal ertrinken lassen. „Scheiße!!“, sagte Michael nur zu seinen Freunden. Alle wussten, was es bedeutete, wenn Biggi bald keine Luft mehr haben würde und mit dem Wasser weiter in den Kanal geschwemmt wurde. Es gab keinen Ausweg. Darauf mussten sie sich erstmal setzen. Mutlos ließen sie sich auf den kalten Boden des Wasserkraftwerks sinken und waren den Tränen nahe. Den Tränen der Verzweiflung, der Angst, der völligen Ratlosigkeit. Thomas flüsterte zu sich selbst: „Nein, das darf doch alles nicht wahr sein. Biggi, ich liebe dich doch.“ „Hey, Jungs! Hört ihr mich nicht mehr?“, ertönte plötzlich wieder Biggis Stimme aus dem Funkgerät. Aber sie konnten ihr jetzt nicht antworten. Was sollten sie ihr denn sagen? Ihr antworten, dass es ohnehin keinen Sinn hatte, irgendwie noch weiterzukämpfen, da sie ohnehin sterben würde? Nein, sie durften es nicht hinnehmen. Sie durften es nicht. Aber sie mussten es wohl. Schweren Herzens betätigte Michael wieder die Sprechtaste und sagte schließlich: „Doch Biggi, wir hören dich.“ Biggi versuchte sich inzwischen irgendwie im Rohr aufzusetzen. Liegen konnte sie nicht mehr. Dafür war der Wasserpegel viel zu hoch. Das Wasser war so kalt, dass es wie tausend Pfeile auf ihren ganzen Körper einstach, doch das musste sie jetzt aushalten. „Jungs, ich … ich weiß, dass ich keine Chance hab …“, sagte sie leise, aber verständlich. Thomas brach in Tränen aus. Viel besser ging es auch Peter und Michael nicht. „Biggi, das darfst du nicht sagen.“, protestierte Michael, wusste insgeheim aber, dass sie Recht hatte. „Sicher, es ist ja die Wahrheit. Vielleicht noch zwei, drei Minuten, dann ist das Rohr hier voll und ich werde ertrinken.“ Sie zitterte am ganzen Körper vor Kälte und musste ihre letzten Kräfte aufbringen, um in dem Strom nicht mitzutreiben und auf der Stelle zu bleiben. „Biggi, nein!!! Das darfst du nicht!“, brüllte plötzlich Thomas außer sich in das Funkgerät. Er war völlig verzweifelt. Er würde seine Biggi verlieren, für immer, und das noch innerhalb der nächsten Minuten. Das durfte doch alles einfach nicht wahr sein!!! „Thomas …“, flüsterte Biggi. Seine Stimme ließ ihr endgültig die Tränen hochsteigen. Sie würde nie wieder, nie mehr wieder würde sie Thomas in den Arm nehmen können, ihn küssen können. Nie wieder. Das wurde ihr erst jetzt so richtig bewusst. Sie würde sterben, sterben! Von dieser Welt gehen! „Thomas, ich will nicht sterben. Nicht jetzt.“, sprach sie verzweifelt in das Walkie. Dieser Satz hämmerte sich in einen Kopf nach dem anderen. Und plötzlich stand Thomas dort oben am Boden des Wasserkraftwerks mit einem Ruck auf und sagte leise zu den beiden: „Nein, das darf sie auch nicht.“ Die anderen wussten nicht, was sie sagen sollten. Das einzige, was sie wussten, war, dass sie jetzt nicht aufgeben durften. Wie oft war die Lage schon aussichtslos gewesen? Und wie oft hatten sie trotzdem daraus die unerwartetsten Dinge geschöpft? Sie durften nicht ausgerechnet jetzt aufgeben, nicht ausgerechnet bei ihrer Freundin, die selbst schon unzählige Leben gerettet hatte. Sie schuldeten es sich selbst, in dieser Situation nicht den Löffel abzugeben. „Hey, Sie! Haben Sie hier irgendwo nen Plan von diesem Kraftwerk?“, rief Michael dann einem der Mitarbeiter zu. „Schwierig. Aber irgendwo hier müsste einer sein.“ „Beeilen Sie sich, bitte! Es geht hier um ein Menschenleben.“, drängte Michael den Mann ungeduldig. Als der ihm endlich den Plan aushändigte, riss er ihn ihm aus der Hand und breitete ihn vor Thomas und Peter auf dem Boden aus. „Thomas, du kennst dich doch auf so nem Zeugs aus? Jetzt komm schon, wir dürfen nicht aufgeben. Behalt die Nerven!“, bearbeitete er seinen Freund. Dieser riss sich darauf wirklich zusammen und versuchte, irgendwas an dem Plan auszumachen. „Hier, das müssen die Rohre sein. Aber wir wissen ja nicht mal, in welchem sie ist.“, sagte er hoffnungslos. „Ja, aber sie gehen ja alle in dieselbe Richtung!“, meinte Peter. „Ja, das stimmt. Und sie münden hier drüben alle in die Salzach.“, sagte Thomas darauf und musste sofort wieder ein paar Tränen schlucken. „Na … und … wer weiß, wie weit Biggi in dem Rohr schon vorangetrieben worden ist?“, begann Peter dann. „Was meinst du damit?“ „Na ja, wenn der Wasserpegel steigt und sie weitergetrieben wird, müsste sie doch bald in der Salzach sein, oder? Und dorthin kommen wir auch ran!“ „Dein Optimismus in Ehren, Peter. Aber bis sie in der Salzach ist, ist sie möglicherweise schon gar nicht mehr am Leben.“, versuchte Michael, realistisch zu bleiben. „Haben wir eine andere Wahl? Drei Minuten kann ein Mensch ohne Sauerstoff überleben. Vielleicht reicht das ja. Wir müssen es zumindest versuchen.“ Thomas und Michael blickten sich an. Dann meinte Michael leise: „Er hat Recht. Wenn wir eine Wahl haben, dann ist es diese.“ Thomas schüttelte nur langsam den Kopf. „Das dürfen wir nicht. Sie wird es nicht überleben. Sie wird sterben, ich spüre es.“ Darauf stand Michael auf und rüttelte ihn fest an den Schultern. „Hör auf, dir das einzureden! Wir haben diese eine Chance, willst du etwa, dass wir sie nicht nützen und Biggi einfach sterben lassen? Willst du das?“ „Nein.“, antwortete Thomas, worauf ihm wieder Tränen über die Wangen liefen. „Na also, dann ab! Wir müssen mit dem Heli dorthin fliegen, wo das Rohr endet. Dann können wir Biggi irgendwie abpassen.“ Thomas nickte. Und so rannten sie so schnell sie nur konnten nach draußen, auf das Feld zum Heli. Sie warfen sich in die Maschine, und Thomas hob ab, weit bevor der Rotor seine vorgeschriebene Drehzahl erreicht hatte. Michael nahm wieder sein Walkie. Den Plan mussten sie jetzt erstmal Biggi erklären. „Biggi, hör zu. Bist du noch da?“, fragte er in das Funkgerät. Biggi stand das Wasser inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals. Sie musste das Walkie ganz nach oben halten, damit es nicht mit dem Wasser in Berührung kam. Sie hustete und keuchte, und antwortete schließlich: „Ja, bin ich. Aber nicht mehr lange.“ „Biggi, wir haben eine Chance. Eine einzige.“ Biggi horchte auf. „Welche denn?“ „Du wirst bald mit dem Wasser weitergeschwemmt werden. Das Rohr, in dem du dich befindest, endet in der Salzach. Vielleicht brauchst du nur zwei bis drei Minuten, um dort anzukommen.“ „Inzwischen bin ich aber schon …“, begann Biggi. „Ich weiß. Aber wenn wir dich rechtzeitig aus dem Wasser holen können …“ Er hielt inne. „Ich verstehe.“, sagte Biggi darauf. „Biggi, glaub mir. Wir werden alles tun, um dich wieder zurückzuholen. Wir haben es schon oft genug geschafft. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben.“ Biggi atmete durch. Soweit sie noch atmen konnte. Sie hielt den Kopf hoch, um über der Wasseroberfläche Sauerstoff zu erlangen. „Ok. Ihr könnt es ja versuchen. Aber bitte, versprecht mir, euch keine Vorwürfe zu machen, wenn es nicht klappt.“ Darauf antworteten sie nicht. Sie wollten gar nicht an die Möglichkeit denken, dass es nicht klappen könnte. Dass sie Biggi verlieren könnten. „Biggi, es wird klappen.“ „Danke, Jungs … aber… falls … falls es doch schief geht … ich will, dass ihr etwas wisst.“ Sie hustete wieder und rang nach Luft, dann sprach sie mit ihren letzten Kräften weiter. „Danke für eure Freundschaft. Die Jahre mit euch und Gabi und Ralf waren die schönste Zeit meines Lebens. Danke.“ Sie wussten nicht, was sie darauf sagen sollten. Alles, was sie spürten, waren die Tränen, mit denen sich ihre Augen füllten. Thomas hatte Mühe, den Steuerknüppel ruhig zu halten. „Und Thomas … ich muss dir auch was sagen.“, sagte Biggi dann leise. „Nein, Biggi … ich muss dir etwas sagen.“, sagte Thomas darauf, und sie konnte sogar durch das Rauschen im Funkgerät heraushören, dass er gerade wie ein Schlosshund weinte. Unter Tränen flüsterte er: „Ich bitte dich um Verzeihung! Es tut mir so Leid … ich bin ein absoluter Idiot, dass ich es nicht früher erkannt habe. Aber es ist mir ganz egal, ob du mich betrogen hast.“ „Das habe ich nicht!“ „Biggi, ich … ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt!“ Michael und Peter blickten sich an und zogen dann die Stecker aus ihren Mikros. „Ich … ich liebe dich auch. Niemals hätte ich einen Mann mehr lieben können. Bitte … bitte vergiss mich nicht, ja?“ „Niemals.“ Daraufhin brach er beinahe in sich zusammen. Er konnte kaum mehr den Heli unter Kontrolle halten. „Thomas …“ Doch es war zu spät. Das Wasser erstickte nicht nur Biggis Worte, sondern sie selbst unter sich und sie wurde von seinen Kräften in die Tiefe gezogen. Sie schaffte es nicht mal mehr, Luft zu holen. „Biggi! Biggi, sag doch was!“, rief Thomas außer sich vor Angst. Keine Antwort. „Jetzt ist es soweit. Wir haben ab jetzt noch genau drei Minuten.“, sagte Michael. „Zeig mir noch mal den verdammten Plan!“, brüllte Thomas Peter an, worauf der sofort den Plan auseinanderlegte und ihn Thomas vor die Augen hielt. „Wir müssen noch einen Kilometer südwestlich, dann sind wir da.“, meinte dieser dann und flog mit vollem Karacho in südwestliche Richtung. Biggi wurde nach nur einer halben Minute bewusstlos. Das Rohr war unheimlich lang, aber sie trieb immer näher auf die Salzach zu. Thomas landete nach kurzer Zeit den Heli am Salzachufer, dort, wo ein Rohr nach dem anderen in den Fluss mündete. „Wir müssen sie hier abfangen. Anders haben wir keine Chance, der Fluss ist an der Stelle viel zu breit.“ So rannten sie also ganz zum Ufer und machten einer nach dem anderen einen Kopfsprung ins Wasser. Lange mussten sie nicht warten. Nach etwa zwei Minuten, die ihnen vorkamen wie zwei endlose Stunden, erkannten sie plötzlich Biggis rote Jacke an der Wasseroberfläche. Thomas war ihr am nahesten. Er musste nur einen kurzen Satz zur Seite hechten, um sie schließlich mit einem festen Griff zu packen und an sich zu ziehen. Er konnte es nicht glauben. Endlich, endlich hielt er sie wieder im Arm. Doch die Freude einer Millisekunde brachte ihm gar nichts, sobald er sich Biggis lebloses, blasses Gesicht ansah. Seit drei Minuten hatte sie inzwischen keinen Sauerstoff mehr. Während Peter bereits ans Ufer geklettert war, um die Ausrüstung aus dem Heli zu holen, schwamm Michael zu Thomas. Sie lagerten Biggi im Wasser so, dass Michael erstmal Mund-zu-Mund Beatmung machen konnte und Biggis Gehirn so endlich wieder mit Sauerstoff versorgt wurde. Das war jetzt das Wichtigste. „Michael, bitte, rette sie!“, flehte Thomas seinen Freund an. Michael antwortete nicht darauf. Er wusste genau, wie ernst die Lage war, doch das durfte er nicht an sich herankommen lassen. Jetzt zählten seine Qualitäten als Arzt, Sekunden würden über Biggis Leben entscheiden. „Komm, sofort ans Ufer mit ihr.“ Er zog seinen Freund am Arm hinter sich her und beatmete Biggi zwischendurch wieder. Dann half Peter ihnen, sie aus dem Wasser zu ziehen. Dort lagerten sie sie sofort auf die Gummimatte. „Schnell jetzt, Ambubeutel, EKG!!“, wies Michael den Sanitäter an, der schleunigst alles vorbereitete. Thomas beugte sich über Biggi und flüsterte: „Bitte, Biggi du musst es schaffen!! Du darfst mich nicht verlassen, hörst du?“ Er griff nach ihrer Hand und drückte sie so fest er konnte an sich, während Michael ihren Overall aufriss, das EKG anschloss und mit der Herzmassage begann. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, beatmen!“ Das EKG zeigte nichts an. Nicht die geringste Regung. Bestimmt zehnmal wiederholten sie die Herzmassage, der Schweiß tropfte ihnen von der Stirn, sie schafften es kaum mehr, ruhig zu atmen. „Komm schon, Biggi, lass uns nicht im Stich!“, brüllte nun auch Michael seine leblose Kollegin an. Thomas konnte inzwischen gar nichts mehr sagen. Er drückte nur ihre Hand an sich, starrte auf das EKG und spürte, wie sein Herz ihm bis sonst wohin schlug. „Scheiße, Kammerflimmern. Der Defi, schnell!“, rief Michael dann plötzlich. Peter hatte bereits damit gerechnet, dass sie den Defibrillator brauchen würden, und meinte: „Hier, neben dir.“ Sofort machte Michael sich daran, ihn anzuschließen, während Peter Biggi weiter beatmete. „200 Joule, ok. Thomas, lass ihr Hand los! Hörst du nicht?“ Thomas hörte es wirklich nicht. Doch jetzt, wo Michael ihm direkt ins Gesicht brüllte, kam er plötzlich wieder zu sich und ließ schließlich schweren Herzens Biggis Hand los. „Achtung, weg!“ Ein gewaltiger Stromschlag fuhr durch Biggis Körper und sie wurde ein Stück in die Luft geschleudert. „Nichts.“, stellte Michael verzweifelt fest. „Noch mal. Achtung, weg!“ Wieder dasselbe. Thomas konnte gar nicht hinsehen. Das Herz schmerzte ihm unausstehlich, als er seine Biggi zum zweiten Mal so sah. Das Kammerflimmern legte sich jedoch immer noch nicht. „Das darf doch nicht wahr sein...“ Michael holte einmal tief Luft und versuchte, durchzudenken. „Ok, Peter, 1 mg Adrenalin, sofort.“ Peter zog in Windeseile die Spritze auf und überreichte sie Michael. Der injizierte sie Biggi und lud anschließend sogleich die nächste Defibrillation. „360 Joule. Wenn sie es jetzt nicht schafft, dann …“ Michael sprach nicht weiter. Er setzte die Elektroden an Biggis Brust an und ließ eine Sekunde später abermals einen gewaltigen Stromschlag durch ihren Körper fahren. Abermals wurde sie in die Luft geworfen. Gebannt blickten sie auf das EKG. Erst war nur weiter die Flimmerlinie zu sehen. Doch plötzlich, sie trauten ihren Augen nicht. Ein Ausschlag! Und kurz darauf der nächste! „Ja, jaaaa, wir haben sie wieder!“ Wieder waren Michael, Peter und Thomas außer sich, diesmal aber vor Freude. Thomas konnte es nicht fassen. Noch immer starrte er auf die Anzeige des EKGs, während sich Michael und Peter bereits in die Arme fielen. Dann realisierte es auch Thomas. „Sie … sie lebt … meine Biggi lebt.“, flüsterte er. „Ja, Thomas! Sie lebt.“, sagte ihm Michael dann ins Gesicht. Thomas ließ sich in seine Arme fallen. Er war überglücklich, so glücklich wie noch nie in seinem ganzen Leben. „Michael, du bist … du bist einfach …“ Ihm fehlten die Worte. Freudentränen liefen ihm über die Wangen. Dann neigte er sich über seine Biggi und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Alle drei waren so überdreht vor Freude, dass sie schließlich fast vergaßen, sie weiter zu beatmen. Doch Michael fiel es rechtzeitig auf und schloss sie schließlich an das Sauerstoffgerät an. Thomas hatte sich immer noch über ihren Kopf geneigt und streichelte liebevoll über ihr nasses Haar. „Jetzt darfst du sie streicheln, solange du willst.“, meinte Michael lächelnd. „Und jetzt darfst du sie auch um Verzeihung bitten.“, fügte er anschließend hinzu. Thomas schluckte. „Erinnere mich nicht daran. Ich war so ein verdammter Idiot. Das lässt sich nicht gut machen.“ „Doch, doch, das lässt es sich. Hör ihr das nächste Mal einfach zu.“ Thomas nickte. Er ließ seine Augen nicht mehr von Biggi, die immer noch reglos, aber scheinbar viel lebendiger am Ufer lag. „Wann wacht sie denn auf?“, fragte Thomas ihn ungeduldig. „Das kann ich nicht sagen. Erstmal müssen wir sie versorgen und sicher in die Klinik bringen. Aber es kann natürlich sein, dass sie gleich oder auch erst in ein paar Stunden aufwacht.“ Michael legte ihr einen Zugang und schloss eine Infusion an. Dann injizierte er ihr ein Kreislaufmedikament. Thomas hielt die ganze Zeit Biggis Hand und ließ nicht den Blick von ihr ab. Peter hatte inzwischen eine Decke geholt, und Thomas deckte sie fürsorglich damit zu. Dann nahm er sie ganz vorsichtig in die Arme und zog sie zu sich. Erst jetzt bemerkte er, wie kalt sie eigentlich war. Besorgt drückte er sie noch fester an sich und versuchte sie zu wärmen. „Sie wird doch wieder ganz, oder, Michael?“ Michael nickte. „Sie hat es zurück ins Leben geschafft. Jetzt gibt sie bestimmt nicht mehr auf.“ Das sah Thomas ein. Beruhigt strich er ihr liebevoll über die Wange und sagte leise: „Ich bin dir so dankbar, mein Schatz. Du hast es geschafft.“ Er lächelte überglücklich. Plötzlich erkannte er eine leichte Regung in Biggis Gesicht. „Ich glaube, sie kommt zu sich.“, sagte Michael darauf leise zu ihm. Und tatsächlich. Wenige Sekunden später schlug Biggi die Augen auf. Das erste, was sie erblickte, war Thomas’ Gesicht, das sie strahlend anlächelte. „Hey, mein Schatz. Da bist du ja wieder.“, flüsterte er, worauf ihm die Tränen in die Augen stiegen und ihm eine nach der anderen übers Gesicht rannte. „Ihr habt es … geschafft?“, fragte Biggi leise und ungläubig. „Du hast es geschafft…“, antwortete Michael ihr darauf und lächelte ebenso. Dann strich er ihr noch mal über die Schulter, warf Thomas einen viel sagenden Blick zu und zog Peter mit sich ein paar Meter weiter. „Biggi, ich … kannst du mir verzeihen? Ich war so ein Trottel. Ich werde es ewig bereuen.“, begann Thomas dann, und sie spürte, wie weh es ihm tat, diese Worte zu sprechen. „Wie … wie kamst du denn überhaupt darauf, ich würde dich betrügen?“, fragte sie ihn darauf schwach. „Dieser Brief … dieser rosa Brief in deiner Schmuckschatulle … darin hat ein Günther geschrieben, du würdest dich von mir trennen wollen und ihn lieben.“ „Oh Mann.“, sagte Biggi darauf nur. „Hast du mal aufs Datum geguckt? Dezember 1985. Da war ich gerade in der Ausbildung und mit so einem Kollegen liiert. Thomas hieß er. Günther war auch ein Kollege. Die Nächte, von denen er schreibt, hat es nie gegeben. Besser gesagt waren es Abende, an denen wir essen waren. Der Rest war Einbildung, er hat es sich wohl zu sehr gewünscht. Jahrelang hat er mich belästigt. Vor ein paar Wochen hab ich seinen Brief wieder gefunden und ihn in die Schatulle gelegt.“ Thomas traute seinen Ohren nicht. „Jetzt ist es fix, ich bin und bleibe ein Idiot.“ „Nein, bist du nicht. Aber etwas kannst du mir verraten.“ „Was denn?“ „Wer ist diese Frau in deiner Overalltasche?“ Thomas verstand nicht, was sie meinte. Dann blickte er herab zu seinen Taschen und erkannte plötzlich das Stück Foto darin, das auch Biggi gesehen hatte. „Ach, das! Das hat vor ein paar Tagen ein Patient verloren. Ich hab den Heli saubergemacht und wusste nicht, wohin damit. Ich wollte es ihm vorbeibringen.“ Biggi musste grinsen. Sie war so erleichtert, aber sie schämte sich ebenso. „Siehst du, dann bin ich auch ne Idiotin. Ich dachte, das ist deine Neue.“ Thomas musste lachen. „Wenigstens steht jetzt eindeutig fest, dass wir zusammenpassen.“, meinte er dann, wurde darauf jedoch wieder ernst. „Biggi, ich liebe dich unendlich.“ „Ich dich auch.“, flüsterte sie. Dann nahm er sie ganz fest und liebevoll in die Arme und drückte sie an sich. Das tat so gut. Während sie sich so geborgen an seine Brust schmiegte, schloss Biggi ganz langsam wieder die Augen. Doch das Lächeln auf ihren Lippen blieb.
Vier Wochen später. Die Basis war für Außenstehende nicht wieder zu erkennen. Aus den roten und gelben Farben war fast einheitliches Weiß geworden. Im Hangar stand ein überglückliches Brautpaar, das sich wenige Sekunden nach Beendigung der offiziellen Trauung in die Arme fiel und innig küsste. Biggi und Thomas, die Trauzeugen, standen Arm in Arm daneben und lächelten einander glücklich an. „Wollen wir so was auch mal machen?“, fragte Thomas Biggi dann ins Ohr. Sie blickte ihn an, doch zu einer Antwort kam sie nicht. „Jetzt wird der Brautstrauß geworfen!“, rief Max durch ein Mikro durch den bunt geschmückten Hangar, worauf sich Gabi und Ralf auf ein kleines Podest stellten. Dann machte Gabi die Augen zu, holte weit aus und warf dann den Strauß in die Menge. Kurz darauf wurde er gefangen. Nicht von irgendjemandem. Alles jubelte. Biggi hielt den Brautstrauß in den Händen, blickte Thomas verliebt an und fragte: „Hab ich denn jetzt eine andere Wahl?“ „Ne.“ Thomas schüttelte den Kopf, umfasste dann mit seinen Händen zärtlich Biggis Kopf und zog sie zu sich. Dann fielen sie sich küssend in die Arme.
Zur selben Zeit wurde gerade ein durchgeweichtes Stück Papier ans Ufer der Salzach geschwemmt. Genau neben der Basis. Darauf waren zwei überglückliche Piloten abgebildet. Langsam begann es, in der Sonne zu trocknen. Es hatte genauso überlebt wie die Liebe zwischen den beiden, der nicht mal der tosendste Wasserfall der Gefühle irgendetwas anhaben konnte. Und wenn sie nicht inzwischen geheiratet haben, stehen sie immer noch draußen am Hangar und küssen sich heute noch …
The End